Kommentar: Was für und was gegen Facebooks Timeline spricht

Facebooks „lebenslanges Tagebuch“ steht nun auch deutschen Facebook-Nutzern zur Verfügung. Geht es nach den Vorstellungen des Facebook-Gründers Mark Zuckerberg, sollen die User in Zukunft alle privaten Daten von der Wiege bis zur Bahre in dieser Online-Chronik speichern. Aber nur sehr naive Nutzer dürften dieses Angebot für private Daten einsetzen. Das Eigen­marketing von Bewerbern und Selbstständigen könnte Timeline jedoch revolutionieren, denn die Chronik eignet sich gut für moderne, ständig aktuelle Online-Lebens­läufe und einprägsame Kompetenznachweise in der Kundenakquisition.

Zuckerbergs Vision und die Bereitschaft der US-Bürger, privateste Daten online zu stellen, ist eigentlich nur vor dem Hintergrund einer Gesellschaft zu verstehen, die noch nie unter einer Diktatur litt. In einem Land aber, das in einem Jahrhundert bereits zwei totalitäre Systeme durchleben musste, sollten die Menschen wissen, was derartige Machtapparate mit den privaten Daten ihrer Bürger anstellen können.

Aber mit den Menschen sterben auch ihre Erfahrungen. Und Erinnerungen an Diktaturen verblassen viel zu schnell. Wer heute als so genannter Digital Native um die Zwanzig oder gar noch jünger ist, kennt weder die Schrecken der Nazizeit noch die unter Ulbricht und Honecker. Viele junge Leute sind deshalb – man möge mir den Kalauer nachsehen – nicht nur „digital nativ“, sondern leider auch „digital naiv“. Einerseits könnten die Dinge auch in unserem Land nicht immer so gut verlaufen, wie in den letzten Jahrzehnten, andererseits vergisst das Netz nichts. Deshalb mein persönlicher Ratschlag: Hände weg vom privaten Online-Tagebuch!

Eine pauschale Ablehnung und Panik sind jedoch genau so wenig angebracht, denn eine ständig aktuelle Online-Datensammlung persönlicher (nicht privater!) Daten kann durchaus sinnvoll sein!

Wer sich in seinem Leben schon mehrmals für einen Job beworben hat, weiß, dass im Vorfeld einer Bewerbung immer Suchen, Sammeln, Eintippen angesagt ist, weil jeder Lebenslauf von neuem aktualisiert und ergänzt werden muss. Auch Selbstständige können ein Lied von derartiger Sisyphusarbeit singen, weil auch sie ihren potenziellen Kunden vor einem Auftrag jedes Mal neu ihre Erfahrung und Kompetenz beweisen müssen.

In beiden Fällen bietet die Facebook-Timeline einen interessanten neuen Weg: Angenommen, statt Baby-, Geburtstags- und Weihnachtsfotos böte Ihre Timeline Bilder von Ihrer offiziellen Abifeier, von Preisverleihungen, erfolgreichen Projekten, der Eröffnungsfeier Ihres ersten eigenen Betriebs, mit Bravour gemeisterten öffentlichen Auftritten und Messeveranstaltungen – wäre das nicht viel überzeugender als ein paar Blatt Papier mit einer Handvoll tröger Stichworte und Zahlen?

Natürlich dürfte eine solche berufliche Timeline weder Bilder noch Texte mit irgendwelchen Betriebs- oder Kundengeheimnissen enthalten. Aber das gilt ja auch für traditionelle Bewerbungen und Kundenpräsentationen.

Wer die Timeline so nutzen will, muss allerdings vorerst noch entweder eine zusätzliche Seite einrichten oder seine Facebook-Seite gezielt von privaten Elementen reinigen. Facebook täte deshalb gut daran, für diesen Zweck eine separierte Timeline anzubieten und eine selektive Freigabe von Einträgen zu ermöglichen.

Gewiss wird manchem altgedienten Personaler bei dem Gedanken grausen, statt traditionelle Bewerbungsschreiben in Zukunft Timelines von Bewerbern prüfen und beurteilen zu müssen. Andererseits prüfen insgeheim auch heute schon viele Personalverantwortliche bei verantwortungsvollen Jobs die Facebook-Seiten der Bewerber. Da liegt es doch nahe, Facebook ganz gezielt für die Eigenvermarktung einzusetzen. Was meinen Sie? Michael J.M. Lang