Bülent Tulay

Die Lotsen sind stets die Kleineren

Bülent Tulay ist Sprecher des Vorstands der 2006 geschaffenen Eurawis AG mit Sitz in München. Die Holding beschäftigt an 13 Standorten rund 1000 Mitarbeiter. Zur Firmengruppe gehört unter anderem die „Eura Personal“, die Zeitarbeiter vermittelt, mit besonderem Schwerpunkt auf Best Agers und Migranten. Wir wollten mehr über die Vorstellungen und Ziele des vielseitigen Unternehmers erfahren, der die bayerische Landeshauptstadt schätzt, weil sie sich in kein Klischee pressen lässt. „Das“, sagt Tulay, „ist nicht nur ein großer Beitrag für den Standort München, sondern ein guter, bisher meines Erachtens unterschätzter Dienst an Deutschland.“

MittelstandsWiki: In den Medien liest man immer wieder, dass die Zeitarbeitsbranche als Erste unter der Wirtschaftskrise leidet. Können Sie diese Meldung bestätigen?

Bülent Tulay: Die Personaldienstleistungsbranche gilt als Frühindikator. Wenn es mit der Wirtschaft gut oder schlecht läuft, ist sie immer als eine der ersten Branchen betroffen – positiv oder negativ. Gegenwärtig haben wir eine durchaus horizontale, also eine branchenübergreifende Verunsicherung der Märkte. Am meisten scheinen die Marktführer betroffen zu sein, da sie die Auto- und Maschinenbauindustrie und ihre Zulieferer mit einer hohen Anzahl von Hilfskräften beliefert haben. Unsere Eurawis-Firmen sind seit über 22 Jahren ausschließlich auf Fachkräfte spezialisiert. Uns tangiert diese Entwicklung weniger.

MittelstandsWiki: Sind Sie dafür, für Zeitarbeiter Mindestlöhne einzuführen?

Bülent Tulay: Betriebswirtschaftlich hätten wir nichts dagegen. Denn die Vergütung unserer qualifizierten Mitarbeiter ist weit jenseits der in der Öffentlichkeit debattierten Mindestlöhne, für die sich keine Fachkräfte einstellen lassen würden. Ob Mindestlöhne volkswirtschaftlich gut sind? Diese Frage müsste ich allerdings klar verneinen. Mindestlöhne in den unteren Lohngruppen bzw. bei den nicht qualifizierten Tätigkeiten würden allenfalls die Schwarzarbeit vermehren.

MittelstandsWiki: Zu Ihrer Mission gehört es, auch Arbeitnehmern über 50 Jahren, Zuwanderern und Menschen mit Migrationshintergrund Arbeitsplätze anzubieten. Welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht?

Bülent Tulay: Sehr gute. Fachkräfte aus technologischen, technischen und kaufmännischen Bereichen, die älter als 50 Jahre alt sind, sind sehr wertvoll, erfahren und bereit Neues dazuzulernen. Denn sie verfügen über eine gefestigte Wissensbasis.

Bei den Zuwanderern setzen wir unsere interkulturelle Kommunikation bei Einstellung, Beschäftigung und Relation ein. Das heißt, wir nehmen sie mit der richtigen Ansprache mit, qualifizieren sie, wo es möglich ist. Oft sind Migranten aus den Mittelmeerländern und dem Balkan traditionell handwerklich geschickte Personen. Darauf lassen sich viele Qualifizierungsmaßnahmen bauen.

Wenn man bedenkt, dass ab 2020 in Deutschland etwa 6 bis 7 Mio. Arbeitskräfte fehlen werden, und angesichts der Tatsache, dass wir über ausschließlich drei Binnenerwerbstätigenreserven verfügen – nämlich Frauen, Ältere und Migranten – dann sind wir überzeugt davon, dass wir mit unserer Ausrichtung den richtigen Weg eingeschlagen haben.

MittelstandsWiki: Wie arbeiten Sie mit den Arbeitsagenturen und Bildungseinrichtungen zusammen?

Bülent Tulay: Offen gesagt hat sich die Zusammenarbeit dramatisch verbessert. Die Agentur für Arbeit ist weit besser als ihr Ruf. Mit einigen Vertretungen der Agentur für Arbeit haben wir lokale Kooperationsvereinbarungen abgeschlossen. Eine noch stärker optimierte Handlungsweise bei Vermittlungsvorschlägen von Fachpersonal, unabhängig von der Größe der Personaldienstleister, würde meiner Meinung nach noch mehr Menschen einen neuen Arbeitsplatz sichern.

MittelstandsWiki: Sie entwickeln gerade eine eigene Eurawis-Akademie. Welche Aufgaben wird Sie haben?

Bülent Tulay: Die Akademie entwickelt zertifizierte Berufsqualifizierungsmodule und wird sich für die Qualifizierung von Migranten und Migrantinnen einsetzen. Ein weiterer Ansatz ist die Modernisierung der Qualifizierungsmaßnahmen von älteren Arbeitnehmern den so genannten Best Agern. Zudem wird die Akademie Berufsorientierungsmaßnahmen für Jugendliche und Altlehrlingskandidaten anbieten.

MittelstandsWiki: Sie sind Vorsitzender der deutsch-türkischen Wirtschaftsvereinigung. Wie können Sie deutschen und türkischen Unternehmen helfen?

Bülent Tulay: Wir bieten unseren Mitgliedern und Interessenten Schutz-, Netzwerk– und Hilfeleistungen im wechselseitigen Verhältnis an. Wir helfen türkischen Unternehmen in Deutschland und deutschen Unternehmen in der Türkei. Gemeinsam leben in beiden Ländern 160 Mio. Konsumenten. Wenn Türken in Deutschland oder Deutsche in der Türkei investieren, verdoppelt sich praktisch ihre potenzielle Kundenzahl.

MittelstandsWiki: Sie sind auch als Unternehmensberater tätig und unterstützen den Aufbau eines Windparks im Osten der Türkei. Werden Sie auch im Bereich Fotovoltaik aktiv werden?

Bülent Tulay: Bei erneuerbaren Energien bin ich völlig unideologisch. Ob Windenergie, Fotovoltaik, Deponiegas, Klärgas, Biogas – den erneuerbaren Energien gehört die Zukunft. In Europa gibt es nicht mehr viele Volkswirtschaften mit steigendem Energiebedarf. Die Türkei gehört dazu. In den etablierten Volkswirtschaften mit abnehmender Industrieproduktion haben wir eigentlich keinen steigenden Energiebedarf mehr, jedoch das Problem der Lieferabhängigkeiten, die wir durch den Ausbau der Vielfalt der Energiequellen entflechten müssen. Wir müssen in diesen Bereich mehr investieren. Wir haben Fotovoltaik absolut auf unserem Monitor.

MittelstandsWiki: Zu Ihrem kleinen Firmenimperium gehört auch ein Verlag. Nach welchen Kriterien wählen Sie ihre Schriftsteller aus?

Bülent Tulay: Ausschließlich nach Kriterien der Qualität. Ich mische mich nicht in der Arbeit der Lektoren ein.

MittelstandsWiki: Was macht München für Sie so einzigartig?

Bülent Tulay: München ist die deutsche Stadt, die die weltweit verbreiteten Klischees und Vorurteile über Deutschland und Deutsche auf eine ganz spezifische Art und Weise mit seiner Sportlichkeit, Festivität und soliden Mobilitätsmarken seit Jahrhunderten wie auch gegenwärtig enttäuscht bzw. beseitigt. Das ist nicht nur ein großer Beitrag für den Standort München, sondern ein guter, bisher meines Erachtens unterschätzter Dienst an Deutschland.

Hochinteressant finde ich z.B. die für heutige musealen Verhältnisse kleine Städtischen Galerie im Lenbachhaus. Wenn das Lenbachhaus sogar als „Baustelle“ mit seinem Programm weltweit in der ersten Liga spielt – denn das Haus ist wegen Bau bis 2012 geschlossen –, bin ich sehr gespannt, was seine Macher mit dem neuen kleinen Haus vorhaben. Im Hafen der großen Tanker sind die Lotsen immer die kleineren. Das ist wie in unserer Branche. Das macht mir Hoffnung.

Das Interview führte Hans Klumbies.