Industrie 4.0, Teil 1: Wann die Industrie 4.0 Wirklichkeit wird

Technologisch sind alle Voraussetzungen erfüllt, um die Fertigung auf Basis intelligenter cyber-physischer Systeme neu aufzusetzen. Damit wären Produktionsanlagen möglich, die sich rasch umprogrammieren lassen und auch bei kleinen Stückzahlen rentabel arbeiten. Dann aber müssen alle Abläufe mitspielen.

Effiziente Fertigung ist heute hochflexibel

Von Sabine Philipp

In Zeiten sinkender Margen und immer kürzeren Produktzyklen ist Industrie 4.0 das Zauberwort. Es verspricht eine effizientere und flexiblere Produktion, die auch individualisierte Produkte in kleineren Stückzahlen zulässt. Dabei werden die Maschinen, Produkte und Lagerhallen zu cyber-physischen Gesamtsystemen, deren Elemente miteinander kommunizieren und sich – zumindest teilweise – sogar selbst steuern.

Industrie 4.0 geht als Konzept aber noch deutlich über die „intelligente Fabrik“ hinaus. Anvisiert ist der Datenaustausch über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg, also die verkettete Vernetzung von Anlagen, Rechnern und Beteiligten. Das macht erstens eine geeignete Infrastruktur erforderlich, zweitens macht es viele Elemente des Gesamtsystems zu Messstationen, Sendern und Empfängern – mit allen zugehörigen Übertragungs- und Sicherheitsrisiken, wie sie die bisherige „reine“ IT bereits zur Genüge kennt. Dem gegenüber steht der unbestreitbare Vorteil: Während die Produktionsplanung und -steuerung bisher mit Erfahrungswerten und Mittelwerten arbeitet, kann die Industrie 4.0 auf jederzeit aktuelle Sensordaten zugreifen und damit sehr viel präziser vorgehen.

Individualisierte Automatisierung

Das Potenzial von Industrie 4.0 dürfte gewaltig sein. Die Fraunhofer-IAO-Studie „Industrie 4.0 – Volkswirtschaftliches Potenzial für Deutschland“ im Auftrag des BITKOM erwartet allein für die sechs Branchen Maschinen- und Anlagenbau, Elektrotechnik, Automobilbau, chemische Industrie, Landwirtschaft sowie Informations- und Kommunikationstechnologie bis 2025 ein zusätzliches Wertschöpfungspotenzial von 78 Mrd. Euro (bei jährlich 1,7 % Wachstum) durch Industrie-4.0-Technologien. Den Mehrwert errechnen die Autoren aus neuen innovativen Produkten, neuen Dienstleistungen und Geschäftsmodellen sowie effizienteren betrieblichen Prozessen. Anwendungen dafür erstrecken sich über die gesamte Wertschöpfungskette, vom Vertrieb über die Produktentwicklung und die Produktion bis zur Logistik und die unterstützenden Bereiche.

Viele Betriebe zeigen sich dieser Entwicklung gegenüber bereits aufgeschlossen. Ausweislich des IT Innovation Readiness Index 2014 im Auftrag von Freudenberg IT haben 70 % der befragten 130 Entscheider mittelständischer Fertigungsunternehmen in Deutschland Interesse an dezentral vernetzten, selbststeuernden Fertigungsprozessen oder haben solche Lösungen bereits implementiert. Das entspricht einem Wachstum von rund 50 % im Vergleich zur Vorgängererhebung 2013.

Im Internet der Dinge
Die technischen Voraussetzungen einer Industrie 4.0 sind bereits gegeben: Die nötige Speicherkapazität ist finanzierbar und die heute möglichen Bandbreiten reichen gut aus. Durch den Internet-Standard IPv6 lassen sich ganze 340 Sextillionen IP-Adressen zuweisen – erst einmal genug um per M2M-Kommunikation eine ganze Reihe von intelligenten Maschinenbauteilen und Infrastrukturelementen miteinander zu verbinden.

Sensorparameter und Algorithmen

Auch wenn viele Projekte vorerst eher Forschungscharakter haben (dazu mehr in Teil 3 dieser Serie), so ist das Thema Industrie 4.0 doch schon in der Realwirtschaft angekommen. So hat T-Systems auf der CeBIT 2014 eine Telematiklösung für Landmaschinenhersteller vorgestellt, bei der die Fahrzeuge Messwerte wie den Feuchtigkeitsgehalt des Ernteguts und den Hektarertrag erfassen, übermitteln und auf einer IT-Plattform bündeln. Daraus kann der Mähdrescher genau erkennen, wann sein Korntank voll sein wird und passgenau einen Traktor zum Überladen herbeirufen. Das ist effizient, spart Zeit und Kraftstoff.

Industriewiebitte?
Noch im vergangenen Jahr konnten ausweislich des Business Performance Index Fertigung Mittelstand nur 31,5 % der mittelständischen Fertigungsunternehmen mit dem Begriff „Industrie 4.0“ überhaupt etwas anfangen. Dass die techconsult-Erhebung für die Elektrotechnik- und Hightech-Industrie etwas bessere Werte verzeichnet (47 % Bekanntheit) dürfte der fachlichen Nähe zur IT geschuldet sein. Insgesamt ist zu beobachten, dass dieser Technologiesprung das Erfolgsfeld mittelständischer Fertigungsunternehmen immer weiter auseinanderzieht: Während die einen bereits mit vernetzten Maschinen arbeiten, droht gut über der Hälfte eine Rolle als abgehängte Schlusslichter. Laut BPI Mittelstand Expertenbericht Fertigung 2014 sind nach wie vor 56 % der Unternehmen mit dem Begriff und den Vorteilen von Industrie 4.0 noch nicht vertraut.

Ein anderes Einsatzgebiet ist die sogenannte Predictive Maintenance (PdM, intelligente Wartung und Instandhaltung). Dabei geht es vor allem um Fehlerdiagnosen: Eine Anlage könnte als Systemwelt über ihre Sensorik Zustandsberichte generieren, rechtzeitig Alarm schlagen, die Informationen vorab an das Smartphone des Monteurs liefern und gleichzeitig bereits die Ersatzteile bestellen. Das Ganze funktioniert im Prinzip ähnlich wie der berühmte Kühlschrank, der übers Internet Milch nachkauft, sobald sie alle ist.

Serie: Industrie 4.0
Teil 1 ist eine Einführung in die schöne neue Welt der „intelligenten“ Produktion, mit all ihren Chancen, all ihren Risiken. Teil 2 rührt an den empfindlichen Punkt des Konzepts: die Standards. Außerdem muss klar sein, dass die Fertigung dann Schutz vor Viren, Würmern und Hackern braucht. Teil 3 prüft, wo mittelständische Unternehmen am besten auf den anrollenden Zug aufspringen können. Eine interssante Möglichkeit sind Forschungskonsortien und Kooperationen mit Hochschulinstituten.

Gusseisen und Informationstechnologie

Einige Unternehmen versuchen bei ihren Vorhaben, die alte und die neue Maschinenwelt miteinander zu verbinden. Diese Strategie geht freilich nicht aufs Ganze, ist aber verständlich: Die alte Mechanik ist robust und vertraut, hat sich bewährt und erfordert weniger Wartung – dafür lässt sich die Produktion darauf nicht so flexibel ändern. Das wiederum können die neuen Maschinen am besten, die eine präzise Sensorik und die passenden Anschlüsse mitbringen. Nur sind sie eben empfindlicher und haben längere Ausfallzeiten.

Auch wenn viele Hürden bereits genommen wurden: Es gibt noch eine Reihe von Herausforderungen zu meistern. Was Organisationen unternehmen, um sie zu meistern, untersucht Teil 2 dieser Serie. Teil 3 beschäftigt sich dann mit Forschungskooperationen und dem nötigen Know-how.

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