New Space: Wo Trägerraketen aus dem Wasser starten

Unter dem Begriff „New Space“ fassen Experten die wachsende Kommerzialisierung des erdnahen Weltraums zusammen. Auch für die deutsche Industrie eröffnet sich hier ein Wachstumsmarkt, von dem man sich Großes erhofft. Eine wichtige Komponente dieses Marktes sind Kleinsatelliten und Microlauncher.

Von der Nordsee in den Weltraum

Von Friedrich List

Microlauncher sind kleine Raketen, die die oft nur wenige Kilogramm wiegenden Kleinsatelliten in den Erdorbit bringen und wesentlich preiswerter sind als die großen Trägerraketen. Allerdings sind Europa und speziell Deutschland zu dicht besiedelt, als dass man einen Raketenstartplatz sicher betreiben könnte. Zu groß ist das Risiko, dass bei einem Fehlstart Trümmerteile auf bewohntes Gebiet fallen. Deswegen fiel 2020 der Startschuss für den Bau einer schiffsgestützten Startplattform. Der Bundesverband der Industrie (BDI) hatte sich schon länger für ein derartiges Projekt starkgemacht. Nun unterzeichneten der Bundesverband, vier europäische Raketenhersteller und die German Offshore Spaceport Alliance eine Absichtserklärung zum Bau einer schwimmenden Startplattform und der entsprechenden Infrastruktur in Bremerhaven.

German Offshore Spaceport Alliance

Ein Spezialschiff mit einer beweglichen Startrampe soll die Raketen mit ihrer Nutzlast zu einer Startposition in der Deutschen Bucht bringen und von dort aufsteigen lassen. Etwa 2023 sollen die ersten Starts durchgeführt werden. Zurzeit läuft eine Machbarkeitsstudie, die klären soll, ob das Projekt wirtschaftlich erfolgreich sein kann. Technisch gesehen dürfte es realisierbar sein. In der Vergangenheit gab es bereits mehrere Anläufe dazu, mit Satelliten beladene Raketen von See aus zu starten. Allerdings waren diese Vorhaben keine kommerziellen Erfolge.

Starten sollen die Satellitenträger im so genannten Entenschnabel, der äußersten Spitze der deutschen Seewirtschaftszone. Der Entenschnabel hat den Vorteil, dass er abseits der großen Schifffahrtsrouten liegt, außerdem fliegt auch der internationale Luftverkehr in der Regel an diesem abgelegenen Seegebiet vorbei.

Am Joint Venture der German Offshore Spaceport Alliance (GOSA) GmbH sind vier Bremer Unternehmen zu je 25 % beteiligt. OHB ist eines der drei führenden europäischen Raumfahrtunternehmen und produziert z.B. kommerzielle, wissenschaftliche und militärische Satelliten. Die Tractebel DOC Offshore GmbH ist der Ableger eines hessischen Ingenieurdienstleisters und hat bereits zahlreiche Offshore-Projekte betreut. MediaMobil ist ein Unternehmen für Satellitenkommunikation. Die Reederei Harren & Partner wiederum ist auf schwere und besondere Ladung spezialisiert. Die Schwergut- und Dockschiffe des Unternehmens sollen die Raketen in einer speziell konstruierten Startbox in Bremerhaven an Bord nehmen und zur Startposition im Entenschnabel bringen.

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Das Szenario in der schematischen Übersicht. Insgesamt sind bei einem Start fünf Schiffe im Einsatz. Damit sollten laut GOSA 20 bis 25 Starts pro Jahr möglich sein. (Bild: German Offshore Spaceport Alliance)

Ebenfalls am Projekt beteiligt sind vier europäische Raketenhersteller: T-Minus aus den Niederlanden, Skyrora aus Großbritannien sowie HyImpulse und Rocket Factory aus Deutschland. Rocket Factory wiederum gehört zum OHB-Konzern und entwickelt ebenso wie die anderen Unternehmen eine eigene kleine Trägerrakete.

Die German Offshore Spaceport Alliance wurde 2017 als OHB Digital Maritime Services GmbH gegründet. Ende 2019 gingen der BDI und die GOSA mit ihrem Konzept eines Offshore-Raketenstartplatzes an die Öffentlichkeit. Im folgenden Jahr unterzeichneten dann alle Beteiligten eine Absichtserklärung. Der damalige Wirtschaftsminister Peter Altmaier stand dem Projekt positiv gegenüber und wollte für eine entsprechende staatliche Förderung sorgen.

Standort Bremerhaven

Wenn die schwimmende Startrampe Realität wird, soll die ABC-Halbinsel im Bremerhavener Überseehafen zum logistischen Zentrum werden. Die 10 ha große Kaianlage bietet ausreichend Platz, sodass man auch Schwergewichte von vielen Hundert Tonnen Masse bewegen und für den Seetransport verladen kann. Sogar Bergbaumaschinen von den Abmessungen eines Hochhauses wurden hier schon montiert und verschifft.

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Als Trägerschiff hat man das Schwergutschiff Combi Dock I von Harren & Partner im Auge, das von der ABC-Halbinsel im Bremerhavener Überseehafen ablegen soll. (Bild: German Offshore Spaceport Alliance)

„Die ABC-Halbinsel ist ideal, um dort sogenannte Microlauncher mit Satelliten zu bestücken und anschließend mit dem Schiff zum Startplatz in die Deutsche Bucht zu bringen“, sagte Sabine von der Recke, die im Vorstand von OHB das GOSA-Projekt verantwortet, gegenüber Pressevertretern. Die Trägerraketen könnten von ihren Herstellern per Bahn oder Schiff angeliefert werden. Die Sicherheitsrisiken sind minimal, denn die Flugkörper werden erst kurz vor dem Start auf hoher See betankt. Auf der ABC-Halbinsel werden die Satelliten installiert und die fertige Rakete wird in einer speziellen Startbox untergebracht. Die wiederum findet ihren Platz auf dem Schiff.

Dieses Schiff gibt es bereits. Es ist kein spezialisierter Entwurf, sondern eines der Schwerlasttransportschiffe der Reederei Harren & Partner: Das Schwergutschiff Combi Dock I lief vor elf Jahren auf der Lloyd-Werft vom Stapel. Für den geplanten Einsatz wären nur geringe Umrüstungen nötig. Nur der Startbehälter müsste noch konstruiert werden. Er würde die Rakete samt Ladung während des Seetransports schützen und auf der Startposition auch als Abschussrampe dienen. Auf der Startposition wird die Rakete betankt und aufgerichtet. Dann muss allerdings die Besatzung auf ein Begleitschiff umsteigen, das dann auf Sicherheitsabstand geht. Von dort werden schließlich die Raketentriebwerke gezündet.

Daran zeigt sich ein Problem des Vorhabens: Man braucht nicht nur ein Schiff, sondern gleich fünf. Neben dem Startschiff benötigt man ein Kommandoschiff, eine Fähre zum Übersetzen der Besatzung des Startschiffs, ein Patrouillenschiff, das andere Schiffe warnt, und ein Bergungsschiff für den Fall, dass wiederverwendbare Raketenstufen zum Einsatz kommen. Pro Jahr könnten 20 bis 25 Starts durchgeführt werden.

Schwierige Witterungsbedingungen, die einen Start vereiteln können, sind eine weitere Schwierigkeit. Oder wenn technische Probleme, die an Bord auftreten, nur an Land behoben werden können. Auch ist das Hauptschiff durch die Raketen selbst gefährdet. Gerade neue Raketen neigen zu Pannen und Explosionen. Und auch ausgereifte Technik kann zu schweren Unfällen führen. Ein weiteres Problem ist nicht zuletzt die Startposition in der Nordsee selbst: Die Raketen können nur durch einen schmalen Luftkorridor nach Norden in den Orbit aufsteigen. Der müsste für jeden Start extra gesperrt werden.

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Schwarz auf Weiß
Dieser Beitrag ist zuerst in unserer Magazin­reihe „IT-Unternehmen aus der Region stellen sich vor“ erschienen. Einen Über­blick mit freien Down­load-Links zu sämt­lichen bereits verfügbaren Einzel­heften bekommen Sie online im Presse­zentrum des MittelstandsWiki.

Microlauncher für Kleinsatelliten

Dabei ist der Einsatz von Microlaunchern durchaus sinnvoll. Die neuesten Satellitengenerationen sind kleiner und kompakter als ihre Vorgänger. Unternehmen wie Starlink, die satellitengestütztes Internet anbieten, setzen nicht mehr auf wenige große Satelliten, sondern auf Tausende von kleinen orbitalen Relaisstationen. Viele dieser Mikrosatelliten werden aber auch zur Erdbeobachtung oder für Forschungszwecke genutzt. Üblicherweise wird eine größere Zahl von ihnen auf einer größeren Trägerrakete ins All geschossen, aber das ist teurer, als es sein müsste.

Microlauncher und damit Satelliten stellen einen Wachstumsmarkt dar. Laut BDI lag der weltweite Raumfahrtmarkt 2018 bei einem Volumen von 260 Milliarden US-Dollar, mit starker Tendenz zu weiterem Wachstum: Bis 2040 könnte er sich auf bis zu 2700 Milliarden US-Dollar mehr als verzehnfachen. Bereits bis 2030 dürften so um die 15.200 Satelliten starten, 90 % davon wären Kleinsatelliten unter 50 kg.

Eine Startplattform in der Nordsee würde nicht nur Deutschland, sondern auch den anderen europäischen Staaten zu einem eigenen Startplatz gerade für diese kleinen Satelliten verhelfen. Bisher steht als europäischer Startplatz nur der Weltraumbahnhof Kourou in Französisch-Guayana zur Verfügung – und der ist rund 5000 km entfernt. Bei alternativen Plätzen sieht es ähnlich aus. US-amerikanische Weltraumbahnhöfe wie Cape Canaveral/Kennedy in Florida erfordern ebenfalls hohe Transportkosten. Startplätze in Russland wie Plessezk oder Baikonur stehen aufgrund der politischen Lage nicht mehr zur Verfügung.

Startplätze in Europa existieren im Moment auch nur als Konzepte. So schlägt Portugal ein eigenes Gelände vor, und auch in Schottland könnte ein kommerzieller Weltraumbahnhof entstehen.

Standortdiskussionen und Perspektiven

Allerdings haben sich die Aussichten für den schwimmenden Startplatz mittlerweile deutlich eingetrübt. Die Luft- und Raumfahrtkoordinatorin der neuen Bundesregierung ging auf Distanz zu dem Projekt. Der Augsburger Allgemeinen sagte Anna Christmann (Grüne), Startplätze in Deutschland seien aus ihrer Sicht nicht entscheidend. Sie verwies auf Standorte in Schweden und Norwegen, die ebenfalls attraktiv seien, und brachte auch Umweltbedenken gegen eine Plattform in der Nordsee ins Spiel. Tatsächlich betreibt Schweden im nordschwedischen Kiruna einen Startplatz, von dem zur Zeit hauptsächlich Forschungsraketen in große Höhen und in den erdnahen Weltraum geschossen werden.

Das große Vorbild der Bremer GOSA ist das ehemals amerikanisch-russische Gemeinschaftsunternehmen Sea Launch. Das 1995 von Boeing, dem russischen Triebwerksproduzenten RKK Energija, dem in der Ukraine ansässigen Raketenhersteller KB Juschnoje/Juschmasch und dem norwegischen Schiffbauer Aker Kværner gegründete Konsortium nutzte eigens konstruierte Spezialschiffe als Startbasen. Zwischen 1999 und 2014 führte Sea Launch 35 Raketenstarts durch. Abzüglich des Teststarts und eines Fehlstarts brachte Sea Launch mit russischen Zenith-Trägerraketen 33 Satelliten ins All.

Wegen des Ukraine-Krieges sind jedoch keine Zenith-Raketen mehr verfügbar. Zwischen 2009 und 2010 war Sea Launch insolvent. RKK Energija übernahm die Mehrheit der Anteile, verkaufte aber 2016 an die russische S7 Group. 2020 verlegten die beiden Startschiffe von Kalifornien nach Wladiwostok.

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Friedrich List ist Journalist und Buch­autor in Hamburg. Seit Anfang des Jahr­hunderts schreibt er über Themen aus Computer­welt und IT, aber auch aus Forschung, Fliegerei und Raum­fahrt, u.a. für Heise-Print- und Online-Publikationen. Für ihn ist SEO genauso interessant wie Alexander Gersts nächster Flug zur Inter­nationalen Raum­station. Außerdem erzählt er auch gerne Geschichten aus seiner Heimatstadt.

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