Autonome Binnenschiffe: Wo Frachter ohne Kapitän aufkreuzen

Die Binnen­schiff­fahrt steht noch im Schatten anderer Verkehrs­träger. Auto­nome Lkw sind bereits Realität, aber bald sollen auch auto­nome Binnen­schiffe auf den Wasser­straßen unter­wegs sein. Im Ruhr­gebiet ent­steht zur­zeit ein Forschungs­zentrum für die Frachter und Fähren der Zukunft.

Kapitän KI

Von Friedrich List

Die Transportleistung der flachen Schiffe kann sich sehen lassen: Nach Angaben des Statistikportals Statista beförderten Binnenschiffe im Jahr 2019 fast 51 Milliarden Tonnenkilometer. Ein großer Teil davon entfällt auf das Ruhrgebiet. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes wird etwa die Hälfte dieser Leistung in dieser traditionellen Industrieregion erbracht. Hier liegt mit dem Duisburger Hafen der größte Binnenhafen Europas und eines der umfangreichsten wasserbasierten Verkehrsnetze. Dazu tragen nicht nur Rhein und Ruhr bei, sondern auch das gut ausgebaute Kanalsystem in der Region. Trotz rückläufiger Tendenzen entlasten Binnenschiffe die chronisch vollen Straßen und Schienenwege des Ruhrgebiets.

Versuchs- und Leitungs­zentrum

Allerdings verlieren sie im Vergleich mit ihrer Konkurrenz an Boden. Deswegen hat das Land Nordrhein-Westfalen im November 2019 ein Versuchs- und Leitungszentrum Autonome Binnenschiffe (VeLABi) auf den Weg gebracht. Das in Duisburg angesiedelte Entwicklungszentrum für Schiffstechnik und Transportsysteme e.V. (DST) baut das Zentrum zusammen mit Partnern aus Forschung und Industrie auf. Dazu gehören das Institut für Schiffstechnik, Meerestechnik & Transportsysteme sowie der Lehrstuhl für Mechatronik der Universität Duisburg-Essen. Hinzu kommt die RWTH Aachen mit ihrem Institut für Regelungstechnik.

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Das VeLABi als Entwurf in der Konzeptphase. (Bild: DST)

Das Zentrum soll mit einem Simulator ausgestattet sein, durch den Forscher die zahlreichen Funktionen eines autonomen Binnenschiffes und seinen Betrieb erproben wollen. Neben Automatisierungsfunktionen handelt es sich dabei um Lösungen zur Fernsteuerung sowie zur Überwachung und zum Eingreifen bei Notfällen an Bord. Zur Ausstattung gehört ein frei konfigurierbarer Steuerstand mit einem 360-Grad-3D-Projektionssystem. Hinzu kommt eine Leitstelle mit drei Arbeitsplätzen, die den gemischten Verkehr von konventionellen und autonomen Binnenschiffen koordiniert. Auf vier weiteren Arbeitsplätzen können Wissenschaftler KI-basierte, autonome Steuersysteme entwickeln und erproben.

Der Simulator nimmt also das reale Verkehrsgeschehen vorweg und hilft dabei, die Grundlagen für die Einführung der ersten autonomen Binnenschiffe zu legen.

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Das VeLABi bei der Eröffnung am 22. Oktober 2020. Am Steuer: Dr. Hendrik Schulte, Staatssekretär im NRW-Verkehrsministerium (Bild: DST – Johannes-Rau-Forschungsgemeinschaft e.V.)

Erste Testfahrten 2021

Nordrhein-Westfalen verfügt bereits über ein Testgebiet für die autonome Binnenschifffahrt. Es umfasst zurzeit das Endstück des Dortmund-Ems-Kanals vor dem Hafen Dortmund. Hier sollen 2021 die ersten Testfahrten stattfinden. Vorher wollen die Forscher das Geschehen im Simulator gründlich durchspielen. Sie möchten in wenigen Monaten eine Betriebszeit von zehn Jahren simulieren und so genug Daten sammeln, um damit eine künstliche Intelligenz zu programmieren. Dieser Fahrroboter soll dann alle nötigen Routen ohne Hilfestellungen fahren können. Danach soll ein 80-m-Binnenschiff angeschafft und zum Versuchsträger umgebaut werden. Im nächsten Schritt soll das Gesamtsystem im realen Schiffsbetrieb getestet werden.

„Es gibt zwar bereits ein reales Testfeld auf dem Dortmund-Ems-Kanal, aber die Vorteile eines Versuchszentrums liegen auf der Hand“, erklärte Prof. Dirk Abel, Leiter des Instituts für Regelungstechnik an der RWTH Aachen, 2019.html gegenüber Pressevertretern. „Die Steuerung kann zunächst in einem Simulator getestet werden, ohne Störungen und Unfälle auf der realen Wasserstraße zu provozieren. Neben etablierten Verfahren werden dabei zur Einschätzung der zukünftigen Manöver benachbarter und entgegenkommender Schiffe auch Methoden der künstlichen Intelligenz zum Einsatz kommen, die lernen, mit unterschiedlichen Situationen umzugehen. Erst dann geht es raus auf die Wasserstraße.“

Die Strecke zwischen dem Dortmunder Hafen und der Schleuse Waltrop wurde wegen des geringen Verkehrsaufkommens ausgewählt. Wenn die Testläufe erfolgreich verlaufen, könnte man das Testgebiet auf den Rhein-Herne-Kanal erweitern, dann auch auf den Duisburger Hafen und schließlich auf den Rhein ausdehnen.

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Schwarz auf Weiß
Dieser Beitrag ist zuerst in unserer Magazin­reihe „IT-Unternehmen aus der Region stellen sich vor“ erschienen. Einen Über­blick mit freien Down­load-Links zu sämt­lichen bereits verfügbaren Einzel­heften bekommen Sie online im Presse­zentrum des MittelstandsWiki.

Gemischter Verkehr

VeLABi kümmert sich aber nicht nur um die Entwicklung von Technologien für autonome Binnenschiffe. Der andere Schwerpunkt liegt auf Lösungen zur Verkehrsleitung. Denn zunächst werden sich Binnenschiffe mit und ohne Besatzung die Wasserstraßen teilen müssen. Ein Leitungszentrum, das ähnlich funktioniert wie die An- und Abflugkontrolle eines Flughafens oder die Verkehrsleitstelle eines Seehafens, würde die einzelnen Schiffe überwachen, mit Informationen versorgen und eingreifen, sobald sich zwei Wasserfahrzeuge gefährlich annähern. Das Leitungszentrum liefert Daten über Verkehrsteilnehmer, Wasserstraßenverhältnisse, Wassertiefen, Strömungen, Hindernisse, Havarien oder Schleusenausfälle. Dabei erhielte das autonome Schiff die Informationen digital, die Schiffsführer dagegen über Funk.

Menschen dürften jedoch noch lange Zeit in der Binnenschifffahrt arbeiten: Schiffe müssen be- und entladen, gewartet und repariert werden. Der Güterumschlag sowie An- und Ablegemanöver oder das Festmachen eines Schiffes am Kai bleiben wohl noch lange in Menschenhand. Als Erstes dürften die Schiffsführer von der Kommandobrücke in eine Leitzentrale an Land wechseln. Denn bereits mit existierenden Technologien ist es möglich, ein Wasserfahrzeug ferngesteuert zu betreiben.

Kleiner, ökologischer, rentabler

Autonome Binnenschiffe könnten außerdem wieder kleiner gebaut werden als bisher. Momentan sind nur große Schiffe rentabel, während sich der Betrieb kleinerer Fahrzeuge kaum lohnt. Hier sind die Lkws überlegen, die schnell auch kleinere Gütermengen von einem großen Umschlagplatz zu ihrem Bestimmungsort bringen können. Eingesetzt auf den Flüssen und Kanalsystemen im Ruhrgebiet, könnten autonome Binnenschiffe hier ein aufgegebenes Marktsegment neu erschließen. Denn vor der großen Zeit der Lkws wurden wesentlich mehr Güter auf dem Wasser transportiert. Auch Umweltaspekte spielen eine Rolle – zeitgemäße elektrische Antriebe könnten zur Reduzierung der Schadstoffbelastung in den Städten beitragen.

Thema: Schifffahrt
Die Frachter waren die Ersten: Noch vor den ersten IoT-Netzen an Land begann die Logistik mit dem Container-Tracking. Mittlerweile wird getestet, wie autonome Schiffe navigieren könnten, und zwar sowohl auf hoher See als auch in der Binnenschifffahrt. Dazu gibt es noch einen Bericht aus Hamburg, der bis ins Jahr 1889 zurückgeht – seitdem ist der Ausrüster Jastram aktiv. Vor einigen Jahren hat er seine historischen Entwürfe, Stücklisten und Baupläne komplett retrodigitalisiert. Und die Hartmann-Gruppe modernisiert ihr Crewing-&-Payroll-Kernsystem mit der Low-Code-Plattform von Thinkwise.

Momentan fehlen allerdings noch innovative Impulse aus dem Schiffbau und von den Reedereien. Vielen Unternehmen fehlen die Ressourcen, um längere Forschungs- und Entwicklungsprojekte voranzutreiben. Das sieht in der Lkw-Industrie anders aus, in der die Hersteller selbst Schrittmacher der Entwicklung sind. Auch die im Vergleich zum Lastwagen längere Lebensdauer von Schiffen und Schiffsmotoren hemmt das Tempo der Innovationen.

Impulse kommen hier aus der Forschung. So arbeitet das DST seit 1. Oktober 2019 am Projekt AutoBin, der Entwicklung eines autonomen Binnenschiffes. Es soll in der Lage sein, ohne menschliches Eingreifen von einem Startpunkt abzulegen, seinen Zielpunkt anzufahren und dort ebenfalls ohne menschliches Zutun anzulegen. Die Steuerung soll dazu fähig sein, Kollisionen mit anderen Wasserfahrzeugen, Bauwerken oder dem Ufer zu verhindern.

Die Forscher wollen dabei auf Ansätze zurückgreifen, die erfolgreich bei der Entwicklung von Assistenzsystemen für den Straßenverkehr genutzt wurden. Die Schiffsteuerung übernehmen die neuronalen Netze einer KI, der man vorher im Fahrsimulator das weitgehend selbstständige Führen eines Schiffes beigebracht hat. Die KI soll nicht nur die Verkehrsregeln befolgen, sondern auch andere Verkehrsteilnehmer oder Nutzer der Wasserfläche wie etwa Schwimmer erkennen und ihnen im Bedarfsfall ausweichen.

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Friedrich List ist Journalist und Buch­autor in Hamburg. Seit Anfang des Jahr­hunderts schreibt er über Themen aus Computer­welt und IT, aber auch aus Forschung, Fliegerei und Raum­fahrt, u.a. für Heise-Print- und Online-Publikationen. Für ihn ist SEO genauso interessant wie Alexander Gersts nächster Flug zur Inter­nationalen Raum­station. Außerdem erzählt er auch gerne Geschichten aus seiner Heimatstadt.

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