Baubotanik

Wenn Bäume Häuser bauen

Von Michael J. M. Lang

Lange Zeit gab es sie nur in Science-Fiction- und Fantasy-Romanen: Häuser und Städte aus lebenden Pflanzen. Seit ein paar Jahren aber befassen sich Stuttgarter Architekten damit, diese Vision zu verwirklichen. Erste Bauwerke auf der Basis lebender Pflanzen lassen das Potenzial dieser Architektur erahnen. Entsteht hier die Welt von morgen? Sicher ist nur, dass sich der Mensch für diesen Fall mit viel Geduld auf die Pflanzen einlassen muss, soll daraus eine erfolgreiche Partnerschaft entstehen. Den Namen für diese Zukunftstechnik sollte man sich so oder so schon mal merken: Baubotanik.

Der Gedanke ist gewöhnungsbedürftig: Lebende Pflanzen sollen Gebäude, Brücken und Terrassen samt Verbindungswegen hervorbringen? Vielleicht sogar ganze Häuser und Städte? Lebendes Material verändert sich doch ständig, passt nicht zu den genormten Formen unserer Lego-Welt. Die Vorstellung, dass in unserer technisierten Gesellschaft nur Normen und normierte Formen Sicherheit und Berechenbarkeit garantieren, ist tief in unseren Vorstellungen verankert und auch nicht falsch. Aber es ist nur eine von mehreren Möglichkeiten, mit der Welt umzugehen. Denn für diese Berechenbarkeit haben wir in der jüngeren Vergangenheit eine Menge Freiheiten aufgegeben und uns so manche steingewordene Tristesse in unsere Städte geholt.

Die ersten Experimente

Dass es auch anders gehen müsste, dachte sich schon 2003 der Stuttgarter Architekturstudent Ferdinand Ludwig und entwarf am Institut Grundlagen moderner Architektur und Entwerfen (IGMA) der Universität Stuttgart einen „lebenden“ Pavillon. Zwei Jahre später, 2005, folgte in Zusammenarbeit mit seinen Kollegen Oliver Storz und Cornelius Hackenbracht ein Steg aus Weidenpflanzen, dessen Prototyp sie im Park Neue Kunst am Ried im baden-württembergischen Wald-Ruhestetten, rund zwanzig Autominuten nördlich des Bodensees, auch tatsächlich realisieren konnten.

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Der erste Prototyp eines baubotanischen Objekts aus dem Jahr 2005, ein Steg mit Stützen aus Weidenstämmchen, diente den Stuttgarter Baubotanik-Pionieren zum Sammeln grundlegender Erfahrungen mit dem „Baumeister Baum“. Zu besichtigen ist das Objekt im baden-württembergischen Örtchen Wald-Ruhestetten. (Entwurf und Realisierung: Ferdinand Ludwig, Oliver Storz, Cornelius Hackenbracht; Foto: Ferdinand Ludwig)

Ludwig und seine beiden Kollegen bündelten für den Steg rund eintausend Silberweidenstämmchen zu mehreren Reihen von Stelzen, in die metallene Querstreben eingebettet wurden, die ihrerseits Metallstege tragen. Das Holz der Weiden sollte die Querstreben und zusätzliche Handläufe aus Edelstahlrohren im Laufe von Jahren umwachsen und fixieren, was mittlerweile auch geschehen ist.

Bauten wachsen lassen

Das für dieses Projekt angewandte Architekturprinzip entstammte der am IGMA gerade neu entwickelten „Baubotanik“. Der Begriff beschreibt einen interdisziplinären Forschungsmix aus ganz unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen mit dem Ziel, Bauten aus lebenden und wachsenden Holzpflanzen entstehen zu lassen. Die Grundidee dabei ist, die ohnehin vorhandene Fähigkeit von Sträuchern und Bäumen, im Verbund größere Strukturen zu bilden, so zu lenken, dass daraus für Menschen geeignete Gebäude und Bauwerke entstehen.

So verschmelzen z.B. Stämme und Äste von Sträuchern und Bäumen an Kontaktstellen und Überkreuzungen dauerhaft, wenn sie unter Druck gesetzt werden. Pflanzenholz kann auch Fremdkörper umwachsen (baubotanisch: „umwallen“) und damit fixieren. Derlei nützliche Eigenschaften gibt es bei Pflanzen viele. Allein die beiden genannten reichen bereits, tragende Flechtwerke, Säulen und Haltestrukturen entstehen zu lassen.

Ganz offensichtlich bot das IGMA schon früh für solche Ideen den idealen Nährboden, denn in den folgenden Jahren entstand ein lockerer Verbund von Leuten, die sich für Baubotanik interessierten und in wechselnden Teams das eine oder andere Projekt anpackten. Auch Kooperationen mit anderen Instituten kamen zustande. Ein reger Ideenaustausch entstand.

Ausbruch aus der Norm
Ansätze aus dem Käfig der normierten Formen auszubrechen, findet man schon früh in der modernen Architektur. Das auch außerhalb der Architekturwelt wohl bekannteste Beispiel ist das Werk des katalanischen Künstlers und Architekten Antoni Gaudí (1852–1926). Seine Bauten in der spanischen Stadt Barcelona – darunter die berühmte Kirche Sagrada Família – ziehen heute mehr denn je Heerscharen von Touristen aus aller Welt in ihren Bann.

Während sich Gaudí bei seiner Architektur die natürlichen Formen der Steine zum Vorbild nahm, diese aber mit traditionellen Materialien nachbildete, gehen die Stuttgarter Architekturpioniere einen anderen, noch weitaus radikaleren Weg: Sie wagen es nicht nur, genormte Formen aufzubrechen und natürliche Formen nachzuahmen – sie wagen es, organisches, lebendes Material diese Formen selbst entwickeln zu lassen. „Form follows function“, dieser viel zitierte Gestaltungsleitsatz des modernen Designs findet somit erstmals in der Baubotanik eine im Wortsinn „organische“ Bestätigung.

Die Erfolge waren so ermutigend und der Ideenaustausch so rege, dass die Stuttgarter Pioniere 2007 während ihrer laufenden Promotionen gemeinsam mit dem Architektur- und Entwurfstheoretiker Hannes Schwertfeger die „Entwicklungsgesellschaft für Baubotanik“ gründeten, und der Leiter des IGMA, Prof. Dr. Gerd de Bruyn zeitgleich an seinem Institut das Forschungsgebiet Baubotanik auch offiziell etablierte.

Für eine entschleunigte Welt

Mittlerweile werden am Steg in Wald-Ruhestetten einige Vor- und Nachteile der neuen Bautechnik selbst für Laien deutlich erkennbar. Einerseits liefern die Pflanzen eine Menge nützlicher Effekte quasi umsonst. So werden die Strukturen des Tragwerks aus Weiden im Laufe der Jahre durch das Wachstum immer stabiler. Andererseits zeigt sich, dass die baubotanische Methode viel Zeit erfordert. Wer sie nutzen will, muss in völlig anderen Zeiträumen planen als bislang üblich.

Damit stellt sich automatisch die Frage: Ist baubotanische Architektur für eine industrialisierte, bestenfalls postindustrielle, hochtechnisierte Welt überhaupt tauglich? Wie schaut es mit der Wirtschaftlichkeit aus? Solche Fragen können derzeit wohl auch die Stuttgarter Pioniere noch nicht sicher beantworten; dazu steht diese einerseits naturwissenschaftliche, andererseits ingenieurtechnische Disziplin noch zu sehr am Beginn ihrer Entwicklung.

Dennoch erscheinen die Chancen gut, denn die grüne Architektur steht den Idealen der urbanen Avantgarde westlicher Gesellschaften gleich in mehrfacher Hinsicht viel näher als die althergebrachte Architektur. Sie kommt dem wachsenden Wunsch nach einer gesunden Umwelt ebenso entgegen wie dem immer größeren Bedürfnis nach Individualität. Außerdem zeichnet sich in vielen westlichen Ländern eine neue Romantik ab, zu der die Vorstellung eines „slow motion living“ ausgezeichnet passen könnte.

Die Wirtschaftlichkeit wiederum wird weitgehend davon abhängen, ob es gelingt, Pflanzen so zu optimieren, dass die wichtigsten Kostenfaktoren – Zeit und Pflegeaufwand – möglichst gering ausfallen. Auch in den Konstruktionsverfahren selbst dürfte noch viel kostenoptimierendes Entwicklungspotenzial stecken.

Fazit: Leben mit der Veränderung

Könnte die baubotanische Architektur eventuell sogar einmal die klassische Architektur verdrängen? Werden wir dann wieder in Wäldern wohnen, wenn auch in urbanen und mit modernstem Komfort? Baubotanik-Pionier Ferdinand Ludwig beurteilt aufgrund der seit den ersten Projekten zahlreich gesammelten praktischen Erfahrungen solche Wunschträume nüchtern. Er glaube nicht – so verriet er uns im Gespräch –, dass lebende Pflanzen in absehbarer Zukunft für Wohngebäude taugen werden. „Lebende Bäume bilden keine lückenlos geschlossenen Wände. Damit können sie weder die geltenden, noch die aller Voraussicht nach noch strengeren künftigen Wärmeschutzstandards erfüllen.“ Deshalb eigne sich diese Architektur in erster Linie für öffentliche Grünräume. Dort, so Ludwig weiter, könnten baubotanische Objekte in Zukunft allerdings spannende Erholungsräume bieten.

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Das bislang größte baubotanische Bauwerk, der „Platanenkubus Nagold“, ging in diesem Frühjahr in der baden-württembergischen Kleinstadt Nagold an den Start. Dort soll der grüne Kubus die Besucher der Landesgartenschau 2012 von der neuen Architektur überzeugen. Der Kubus aus lebenden Platanen (im Bild noch als Entwurf zu sehen) ist das erste, speziell für einen städtischen Einsatz geplante, baubotanische Projekt und wird nach der Ausstellung zwischen Stadthäusern seinen endgültigen Platz einnehmen. (Entwurf und Visualisierung: Ferdinand Ludwig // Daniel Schönle)

Als größtes Hindernis für die Baubotanik dürfte sich jedoch der Mensch selbst erweisen: Werden wir und unsere Nachkommen jemals die Geduld aufbringen können, unsere Häuser, Brücken, Türme, Wege und Stege jahrelang wachsen zu lassen, statt sie über Nacht mit Bagger und Kran hinzuklotzen? Pflanzen hören auch nicht einfach auf, zu wachsen. Baubotanische Objekte sind deshalb nie fertig. Veränderung ist ihr ganz normaler Zustand. Vertragen wir diese kreative Instabilität, die zudem nicht ganz risikolos ist? Und werden wir genügend Toleranz aufbringen können, krumme Äste krumm zu belassen, weil Organismen nun einmal nicht geradeaus wachsen? Viele Architekten verzweifeln heute schon am Unwillen ihrer Kunden, auch nur kleinste Abweichungen zu akzeptieren.

Andererseits: Sind Abweichungen vom Einerlei und Überraschungen, das Zugehen und Eingehen auf die Eigenwilligkeit der Natur und die Lust am Werden und Verwandeln nicht gerade das Salz dieser neuen Architektur, nach dem wir uns immer mehr sehnen?

Nützliche Links

Relevante Web-Adressen sind neben dem Forschungsgebiet Baubionik am IGMA der Universität Stuttgart das Entwurfsbüro Ferdinand Ludwig, die Seite von Daniel Schönle Architekten sowie www.baubotanik.de.