Digitaler Nachlassverwalter: Wer das Erbe von Online-Identitäten regelt

Früher lag der Groß­teil des persön­lichen Ver­mächt­nisses im sicheren Bank­schließ­fach. Heute zählen auch Konten in sozialen Netz­werken und andere virtuelle Werte zur Erb­masse. Digitale Nach­lass­verwalter wagen sich auf ein recht­lich heikles Terrain, um neue Formen der Hinter­lassen­schaft abzuwickeln.

Nach mir die Datenflut

Von Kai Tubbesing

Was geschieht im Falle des Ablebens eines Menschen mit den Dateien auf seinem PC oder Smartphone und mit dem digitalen Fußabdruck, den er über Jahre hinweg online hinterlassen hat? Diese spezielle Form des Nachlasses umfasst weit mehr als nur eine Handvoll privater Fotos und Musikdateien. Im Gegensatz zum materiellen liegt das digitale Vermächtnis nicht nur an einem fest definierten Ort. Es befindet sich zu großen Teilen in der Cloud oder auf den Servern zahlloser weltweiter Anbieter und ist ohne eine Auflistung der entsprechenden Konten und Passwörter unzugänglich. Der moderne Mensch geht dennoch sorglos mit den eigenen Hinterlassenschaften um: Laut einer Bitkom-Untersuchung haben neun von zehn Internet-Nutzern ihren digitalen Nachlass nicht geregelt.

Digitale Vorsorge

Hier kommt der digitale Nachlassverwalter als persönlicher Assistent der Hinterbliebenen ins Spiel. Sein Kompetenzportfolio verquickt detektivischen Spürsinn mit den Analysefähigkeiten eines IT-Profis und der Sensibilität eines Trauerbegleiters. Dabei schrickt er auch nicht vor den Herausforderungen einer vielfach unsicheren Rechtslage zurück. Mit dem Ausbildungsberuf des Bestatters hat die Tätigkeit aber allenfalls die landläufige Bezeichnung gemein: Aus dessen Sicht handelt es sich bei der digitalen Nachlassverwaltung um ein Zusatzangebot, welches zumeist auf der Kooperation mit einem externen Dienstleister beruht.

Wichtig: Diese Übersicht dient lediglich der Orientierung und ersetzt keinesfalls die fach­männische Beratung durch Rechts­experten. Die Inhalte wurden sorg­fältig recherchiert, dennoch sind Ab­weichungen vom tat­sächlichen Sach­verhalt nicht auszuschließen.
„So wie alle Megatrends spiegelt sich natürlich auch die Digitalisierung in allen Ausprägungen in unserer Branche wider und erfordert neue Kompetenzen auf Bestatterseite. Der Bestatter wird so zum sensiblen Verwalter von Persönlichkeitsrechten. Es entwickeln sich neue Grundmuster in der Bestattungskultur, so beispielsweise auch Angebote in Bezug auf digitale Nachlassverwaltung“, sagt Stephan Neuser, Generalsekretär des Bundesverbands Deutscher Bestatter (BDB). „Das Angebot der digitalen Nachlassregelung ist ein fester Programmpunkt im Rahmen des Trauergesprächs bei nahezu jedem Bestatter.“

Zu diesem Zweck kooperiert der BDB, der nach eigener Angabe rund 81 % der deutschen Bestatter unter seinem Dach vereint, mit dem digitalen Nachlassdienst Columba. Dessen Geschäftsmodell beruht auf dem Abgleich der Daten von Verstorbenen mit einer kontinuierlich wachsenden Datenbank von Versicherungen, Online-Shops, sozialen Netzwerken und weiteren Anbietern. Wo die Software einen Treffer feststellt, erfolgt auf Wunsch die automatische Abmeldung oder eine Übertragung des Kontos auf die Erbberechtigten. Dennoch rät Stephan Neuser dazu, Vorsorgemaßnahmen nicht zu vernachlässigen: „Da die Internet-Nutzung immer weiter wächst, wird auch eine digitale Vorsorge immer wichtiger. Hat der Verstorbene eine solche getroffen, macht es das vor allem den Angehörigen viel leichter, die sich angesichts des Todesfalls in einer absoluten Ausnahmesituation befinden.“ Hierzu bietet sich die Aufbewahrung von Zugangs- und Passwortlisten an, etwa in einem sicher aufbewahrten Ordner oder bei einem Vorsorgedienst wie beispielsweise Exmedio oder Vorsorgeplattform24.

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Schwarz auf Weiß
Dieser Beitrag ist zuerst in unserer Magazin­reihe „IT & Karriere“ erschienen. Einen Über­blick mit freien Down­load-Links zu sämt­lichen Einzel­heften be­kommen Sie online im Presse­zentrum des MittelstandsWiki.

Werte identifizieren

Die Arbeit des digitalen Nachlassverwalters ist gleich in mehrerlei Hinsicht wichtig, nicht nur, weil auch das digitale Vermächtnis der Erbschaftssteuerpflicht unterliegt. Bergen die Online-Aktivitäten, E-Mails und digitalen Dokumenten des Verstorbenen vielleicht Hinweise auf bislang unbekannte Bankkonten oder sonstige Werte? Dazu gehört auch die Spielesammlung bei Steam sowie die Musikbibliothek bei iTunes oder Spotify. Allerdings schließen die herstellerseitigen AGB häufig die Möglichkeit des Vererbens aus, da der vermeintliche Käufer digitaler Inhalte lediglich Nutzungsrechte erwirbt.

Zur Erbmasse zählen aber auch Webseiten, Blogs oder einfach nur registrierte Domains. Eine neue Herausforderung sind Kryptowährungen wie der seit rund zehn Jahren existierende Bitcoin. Die Geldeinheiten liegen in sicher verschlüsselten Wallets, der Wert des virtuellen Depots kann schnell schwindelerregende Höhen erreichen. Ohne ein entsprechendes Passwort lässt sich ein solcher Schatz allerdings nicht heben.

Missliche Folgen vermeiden

Gleichzeitig spürt der Nachlassexperte laufende Verträge bei verschiedenen Anbietern auf, um unerwartete Folgekosten zu vermeiden. Bleibt die rechtzeitige Kündigung aus, gehen die Ansprüche gegenüber dem Verstorbenen als Vertragspartner vielfach auf die Erben über. Das betrifft unter anderem Handyverträge, Zeitschriftenabos oder regelmäßig vereinbarte Warenlieferungen. Oft setzt die Annullierung von Verträgen oder das Löschen von Online-Profilen das Einreichen einer Sterbeurkunde voraus.

Bei der geordneten Abwicklung des digitalen Nachlasses geht es auch darum, möglichen Datenmissbrauch zu vermeiden. Ansonsten fristen die Online-Spuren Verstorbener ein unkontrolliertes Dasein auf den Servern unterschiedlicher Anbieter. Das öffnet Tür und Tor für Cyberkriminelle, die sich bevorzugt verwaister Online-Identitäten bemächtigen: Aufgrund der fehlenden Kontrolle durch den Nutzer fällt ein Missbrauch meist erst spät auf. Folglich durchforstet der IT-Detektiv soziale Medien nach Spuren des Verstorbenen und sammelt seine Konten bei E-Mail-Providern, Online-Shops und sonstigen Plattformanbietern.

Die Hinterbliebenen entscheiden sich anschließend für oder gegen das Löschen der Zugänge: Gerade auf E-Mail-Konten können auch zu einem späteren Zeitpunkt noch Hinweise auf bestehende Vermögenswerte eintreffen und das Profil in einem sozialen Netzwerk setzt im Trauermodus den virtuellen Bekanntenkreis über ein Ableben in Kenntnis. In den USA kümmert sich ein Digital Memorialist heute schon um die Profilpflege in sozialen Netzwerken, um Verstorbene in einem würdevollen Licht erscheinen zu lassen. Dazu gehört beispielsweise das Löschen unangemessener Textbeiträge oder blamabler Fotos auf Online-Portalen.

Das alles funktioniert jedoch nur, wenn die Hinterbliebenen bereit sind, dem IT-Spezialisten einen gehörigen Vertrauensvorschuss zu gewähren. Gerade Social-Media- und E-Mail-Konten sowie der private, lokale Datenbestand bergen nämlich ein Konvolut hochsensibler Daten: Ein gewissenhafter Nachlassverwalter agiert taktvoll und löscht allzu persönliche Inhalte, aber sichert Andenken und Erinnerungen, um sie ebenso wie eine Liste mit Online-Zugängen, Verträgen und Passwörtern den Erben zu übergeben. Seine Verschwiegenheit ist sein Kapital und sichert ihm das Vertrauen seiner Kunden.

Auf digitaler Spurensuche

Ausgangspunkt der digitalen Fährtenlese sind die Computer, Smartphones und Festplatten des Verstorbenen. Im Idealfall fördert bereits die erste Recherche eine Auflistung von Zugängen und Passwörtern zutage. Vielleicht verwendete der Verstorbene aber auch einen Passwortmanager wie KeePass oder 1Password? Dann sind die hinterlegten Daten verschlüsselt und erfordern ein Master-Passwort. Auch E-Mails samt Postfachpapierkorb bieten dem digitalen Nachlassverwalter einen tiefen Einblick in die Online-Aktivitäten des Verblichenen: Hier trudeln Rechnungen, Newsletter oder Bankauszüge ein, die allesamt Anhaltspunkte zur Nutzung kostenpflichtiger Dienste liefern können. Weitere Indizien hält die Analyse der Browser-Historie oder ein Blick auf die verwendeten Smartphone-Apps bereit: Hier ist der Nutzer häufig automatisch eingeloggt, das erleichtert den Zugriff. Schließlich bleibt noch das Mittel einer Direktrecherche im Internet. Das Googeln nach dem Klarnamen oder bekannten Pseudonymen kann ebenso eine zusätzliche Spur aufdecken wie auf Facebook verfolgte Seiten. Spezielle Datenrettungssoftware erlaubt zudem ein Wiederherstellen bereits gelöschter Dateien von einer Festplatte oder einem USB-Stick.

Ein Urteil des Karlsruher Bundesgerichtshofs vom Juli 2018 (Az.III ZR 183/17) erleichtert die postmortale Verwaltung von Online-Konten durch Angehörige. Geklagt hatte eine Mutter, die den Zugriff auf das Facebook-Konto ihrer verstorbenen Tochter forderte. In seiner Urteilsbegründung berief sich der vorsitzende Richter auf eine Analogie zu Briefen und Tagebüchern, die ebenfalls an die Erben übergingen. Somit gebe es keinen Grund, den Nutzungsvertrag zwischen der Tochter und dem sozialen Netzwerk anders zu handhaben als gemäß dem in § 1922 BGB festgeschriebenen Grundsatz der Gesamtrechtsnachfolge: Folglich ist die Verfügungsgewalt über ein Konto in sozialen Netzwerken prinzipiell auf die Erben übertragbar.

Wilhelm Bühler war bis Januar 2018 im Großraum Karlsruhe als digitaler Nachlassverwalter tätig. Sein Interesse am Thema sowie ein langjähriger, professioneller IT-Hintergrund führten ihn in die Selbstständigkeit:

„Die zentrale Aufgabe des digitalen Nachlassverwalters besteht darin, aus der Sicht der Erben zu entscheiden, was wichtig ist und was nicht. Würde ich anfangen, in jedem Hobby-Forum alle Einträge einzeln durchzugehen, würden die Kosten für meinen Dienst ins Unermessliche laufen. Das ist wenig zielführend. Wichtig ist das Aufspüren von Vermögenswerten und das Vermeiden von Folgekosten. Bei einem Kunden habe ich beispielsweise eine Kreditkarte mit einem stattlichen Guthaben aufspüren können. Dazu gab es vor Ort keine Plastikkarte, allerdings fand ich während der Recherche am PC eine entsprechende Nummer. In einem anderen Fall fand ich eine kurz vor dem Tod gebuchte Reise, zu der nur wenige Informationen bekannt waren und die ich erst nach einer intensiven Zusatzrecherche bei der richtigen Anlaufstelle stornieren lassen konnte.“

Licht im rechtlichen Dschungel

Und falls sich nicht alle Passwörter auf der Festplatte oder in Aktenordnern finden? In diesem Fall stehen dem digitalen Nachlassverwalter verschiedene Optionen offen, wie der Kölner Medienrechtsanwalt Christian Solmecke erläutert:

„Ein digitaler Nachlassverwalter darf, soweit er vom Erben dazu beauftragt wurde, alle Mittel ausschöpfen, die rechtlich zulässig sind. Darunter fällt etwa die Anfrage an Plattform-Betreiber, die Zugangsdaten des Verstorbenen herauszugeben oder durch bloßes Ausprobieren (Trial and Error) an die Zugangsdaten zu gelangen. Der Provider muss die Zugangsdaten dann herausgeben.“

Rechtskonform ist auch das Durchwühlen aller Daten sowie der Versuch, eine etwaige Verschlüsselung zu knacken – zumindest, wenn es sich dabei nicht um einen Angriff auf die IT-Infrastruktur Dritter handelt: „Solange sich der digitale Nachlassverwalter lediglich in Geräte hackt, die im Eigentum des Verstorbenen standen, macht er sich nicht strafbar. Insbesondere liegt kein Ausspähen von Daten im Sinne des § 202a StGB vor, denn solange der Spezialist vom Erben beauftragt wurde, ist er kein Unbefugter im Sinne der Norm.“ Völlig neue Probleme dürfte in diesem Zusammenhang die Zunahme an biometrischen Authentifizierungsverfahren mitbringen, welche den textbasierten Login zunehmend ersetzen.

Stößt er bei seiner Recherche auf Rechtsverstöße des Verstorbenen, unterliegt der IT-Detektiv weder einer Anzeige- noch einer Verschwiegenheitspflicht. Zudem kommen nur lebende Menschen als Ziel strafrechtlicher Verfolgungen infrage. Anders sieht es aus, wenn die Datenanalyse Auskunft über ein geplantes Verbrechen unter Beteiligung Dritter zutage fördert. Bleibt eine Anzeige bei der Polizei aus, „könnte sich der ITler bei Untätigkeit wegen der Nichtanzeige geplanter Straftaten nach § 138 StGB strafbar machen. Allerdings ist die Strafbarkeit der Nichtanzeige auf wenige besonders schwere Delikte wie Mord, Totschlag, Menschenhandel, Raub oder die Bildung einer terroristischen Vereinigung beschränkt“, so Solmecke.

Tauchen Hinweise auf das illegale Hochladen urheberrechtlich geschützter Inhalte auf, ist die Weiterverbreitung nach Möglichkeit zu unterbinden, und es gilt, die Hinterbliebenen davon in Kenntnis zu setzen. Ansonsten besteht die Gefahr, dass der Rechteinhaber seine Ansprüche gegenüber den Erben geltend macht – was laut Solmecke schlimmstenfalls auf den Nachlassverwalter selbst zurückfallen könnte: „Hier könnte der Erbe möglicherweise argumentieren, der IT-Spezialist hätte aus der vertraglichen Vereinbarung die Nebenpflicht, ihn auf solche Dinge aufmerksam zu machen, um Schäden von ihm abzuwenden.“

Ich plane voraus

In seinem mehrteiligen Report „100 Berufe mit Zukunft“ ging das Magazin Focus im Oktober 2018 auch auf das Berufsbild des digitalen Nachlassverwalters für Quereinsteiger mit fundierten IT-Kenntnissen ein. Bis 2030 soll dem in den USA bereits heute gefragten Job auch hierzulande ein Boom bevorstehen. Den möglichen Bruttoverdienst schätzt der Focus auf 30.000 bis 40.000 Euro. Zumindest gegenwärtig scheint das jedoch zu optimistisch: Zwar steigt die Nachfrage nach Dienstleistungen im Bereich der digitalen Nachlassverwaltung, für eine lukrative Vollzeittätigkeit reicht sie indes noch nicht aus.

So sieht es zumindest der ehemalige digitale Nachlassverwalter Wilhelm Bühler, der selbst viel Unternehmergeist aufbringen musste, um überhaupt erst einmal alle Bestatter in seinem Einzugsgebiet auf seine Dienstleistungen und deren Potenzial hinzuweisen. „Zumindest derzeit kann ich nicht empfehlen, dem Beruf in Vollzeit nachzugehen. Dazu ist die Nachfrage nach den vollumfänglichen Dienstleistungen und die Bereitschaft, dafür auch ein angemessenes Entgelt zu bezahlen, noch zu gering. Die Öffentlichkeit beginnt ja gerade erst, ein Gespür für die Wichtigkeit des Themas zu entwickeln.“

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Kai Tubbesing arbeitet als freier Fach­journalist, Texter für Unter­nehmen und Agenturen sowie Über­setzer im Herzen des Ruhr­gebiets. Sein Kom­petenz­portfolio um­fasst neben klassischen IT-Themen wie Netz­werk­technologien, Security und PC-Hard­ware auch den Mobil­geräte- und Audio­bereich. Bis 2017 war er als leitender Re­dakteur und stell­vertretender Chef­redakteur in der deutschen Redak­tion von Tom’s Hard­ware tätig.

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