Informatik als Pflichtfach: Wo Informatikunterricht im Zeugnis steht

Die Forderung nach Informatik als Pflichtfach in der Schule stößt in Wirtschaft und Gesellschaft auf breiten Konsens. Trotzdem bieten nicht alle Bundesländer Informatikunterricht an, zu viele politische und bürokratische Hürden stehen im Weg. Und manche Länder können oder wollen einfach noch nicht.

Code-Schüler in der Warteschleife

Von David Schahinian

Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Ein Sprichwort, das allein schon aus Gründen einer möglichen Altersdiskriminierung auf den Prüfstand gehört, denn schließlich weiß man heute: Man lernt nie aus. Darüber hinaus haben viele Schülergenerationen eher die umgekehrte Erfahrung gemacht, wenn es um Computer und Technik ging: Oft waren sie es, die mehr auf dem (Brot-)Kasten hatten als die Studienräte in ihren 50ern und 60ern.

Ein Land, viele Unterschiede

Die Welt hat sich weitergedreht. Junge und motivierte Lehrer, die selbst mit Rechnern sozialisiert wurden, sind nachgerückt. Die Digitalisierung beeinflusst mittlerweile nahezu alle Lebensbereiche, ohne Computer und Internet läuft so gut wie gar nichts mehr. Informatische Bildung ist essenziell, um sich im Leben gut und erfolgreich zurechtfinden zu können. Da sind sich von der Politik über die Wirtschaft bis hin zu den Familien und Schulen nahezu alle einig. Ein Blick in viele Lehrpläne zeigt aber: Fehlanzeige.

In Bremen und Hessen etwa existiert keinerlei Angebot für informatorische Bildung im Sekundarbereich I, zeigt der aktuelle Informatik-Monitor der Gesellschaft für Informatik (GI). Lediglich in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Baden-Württemberg, Bayern und Nordrhein-Westfalen gibt es verbindlichen Informatikunterricht in der Sekundarstufe I, allerdings mit „enormen Unterschieden“ in der Breite des Angebots. In acht Bundesländern wird er ausschließlich im Wahlpflicht- und Wahlbereich angeboten. Immerhin: Schleswig-Holstein, Niedersachsen und das Saarland haben das Pflichtfach angekündigt, und auch Thüringen will das Fach sukzessive über die Jahrgänge 5 bis 10 einführen.

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In Deutschland herrschen ganz unterschiedliche Regelungen zum Informatikunterricht. (Bild: Gesellschaft für Informatik e. V.)

Es geht viel zu langsam voran

Droht da eine Mehrklassengesellschaft? Fest steht: Bildung ist Ländersache, und die gehen mit dem Thema sehr unterschiedlich um. Das liegt nicht (nur) an fehlendem Willen, wie ein Blick nach Niedersachsen zeigt. Dort wird Informatik im Sommer 2023 zum Pflichtfach. 55 Schulen nahmen im Vorfeld an einer Erprobungsphase teil, 49 davon konnten es schon in diesem Jahr einführen – aber nur, wenn genügend geeignete Lehrer vorhanden waren. Es gab zehn weitere Schulen, die an der Erprobungsphase teilnehmen wollten. Dort war allerdings das zur Verfügung stehende Kontingent von 200 Lehrkräfte-Sollstunden bereits ausgeschöpft, berichtete das Kultusministerium in Niedersachsen. Angekündigt worden war die Einführung des Pflichtfachs Informatik schon im Jahr 2020. Ob die vorgesehene eine Unterrichtsstunde pro Woche ausreicht, um alle nötigen grundlegenden Kenntnisse zu vermitteln, sei dahingestellt. An diesem Beispiel zeigen sich die Hürden, die der Einführung als Pflichtfach meistens im Weg stehen.

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Schwarz auf Weiß
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Die größten Hindernisse

Lehrermangel

„Schon heute fehlen in den weiterführenden Schulen viele Lehrkräfte für die MINT-Fächer – also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik“, heißt es in einer Studie der Telekom-Stiftung aus dem Januar 2021. Als Folge würde ein Teil des Unterrichts von Lehrkräften erteilt, die das jeweilige MINT-Fach nicht studiert oder darin keinen Abschluss gemacht haben. Der Bildungsforscher Klaus Klemm kommt auf Basis von Berechnungen am Beispiel Nordrhein-Westfalen zu dem Ergebnis, dass es schlimmer wird, nicht besser: Demnach werde sich bis zum Schuljahr 2030/31 in den allgemeinbildenden Schulen der Einstellungsbedarf für die MINT-Fächer insgesamt nur zu einem Drittel mit ausgebildeten MINT-Fachlehrkräften decken lassen.

Die Prognosen von Wido Geis-Thöne vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) klingen kaum besser. In einem Interview mit der FAZ erklärte er: „Das Grundproblem ist, dass das Lehramt für Studenten der MINT-Fächer eher unattraktiv ist, weil es gute alternative Berufschancen abseits der Schulen gibt.“ Insbesondere im Bereich Informatik und Technik werde es besonders große Engpässe geben: „Fächer, die für das Wohl Deutschlands besonders wichtig sind.“

Politik

Wo ein Wille ist, ist in der Regel auch ein Weg. In Mecklenburg-Vorpommern findet seit 2019 ein verbindlicher Informatikunterricht für alle Schüler durchgängig in den Jahrgangsstufen 5 bis 10 statt. Hessen dagegen ist eines der wenigen Bundesländer, in denen es keinerlei solche Pläne gibt. Zur Begründung heißt es vom Kultusminister, dass bei einer Aufnahme weiterer Fächer in den verbindlichen Fächerkanon der Sekundarstufe I die rechtlichen, personellen und organisatorischen Voraussetzungen für das Unterrichtsfach gegeben sein müssen. Das bedeute vor allem, dass bei der Aufnahme eines weiteren verbindlichen Unterrichtsfaches entweder die Wochenstundenzahl für Schüler erhöht oder die Wochenstundenzahl anderer Unterrichtsfächer gekürzt werden müsse.

Vielleicht wäre das ja eine gar nicht so schlechte Idee? „Was würde denn passieren, wenn man die Stundentafel ganz neu schreibt und dabei jedes Fach seine Stunden neu argumentieren müsste?“, fragte die Informatik-Didaktikerin Ira Diethelm letztes Jahr im c’t Magazin. Dinge, die gesetzt erscheinen, sollten infrage gestellt werden. Man könne sich zum Beispiel die Stundentafeln der Länder ansehen, die es geschafft haben.

Hessen sieht sich trotzdem als Vorreiter, da in diesem Jahr ein neues Schulfach namens „Digitale Welt“ eingeführt wurde. Es gehe weit über die Vermittlung von Grundkompetenzen in Informatik hinaus. Das Handelsblatt hebt allerdings hervor, dass es sich lediglich um ein Pilotprojekt in den fünften Klassen an insgesamt zwölf Schulen handelt.

Föderalismus

Die Bundesregierung werde sich „dafür einsetzen, dass Informatikunterricht ab der Sekundarstufe I verpflichtend eingeführt wird und dass die Vielfalt der digitalisierungs- und technologiebezogenen Berufsfelder bereits in der schulischen Berufsorientierung umfassend und klischeefrei vermittelt wird“. So stand es zumindest noch Anfang Juni 2022 im Entwurf der Start-up-Strategie des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK).

Ende Juli wurde die Strategie dann veröffentlicht. Darin steht nun, dass sich die Bundesregierung dafür einsetzen werde, „dass Digital- und Daten- sowie Wirtschafts- und Finanzkompetenzen (Digital and Financial Literacy) gestärkt werden“ sowie „die von Bund und Ländern gemeinsam geförderten bundesweiten Informatikwettbewerbe im Schulbereich ausgebaut werden“. Bildung.Table, ein Portal zur Transformation des Bildungssektors, zitiert dazu eine Sprecherin des Ministeriums: „Die konkrete Entscheidung über einen verpflichtenden Informatikunterricht obliegt ohnehin den Ländern.“ Stichwort: Kulturhoheit. Das allerdings wusste man auch schon vorher. Ob die Bundesländer da interveniert haben?

Hinzu kommt der Inhalt des Lehrstoffes, der sich aufgrund des föderalistisch aufgebauten Bildungssystems von Bundesland zu Bundesland unterscheidet. Wo soll man anfangen – bei Datenbanken, bei Programmiersprachen, bei informatorischem Grundverständnis? In der Grundschule oder später? Soll man sich allein einem bildungsidealistischen Prinzip verpflichtet fühlen – oder doch auch ein wenig auf die Anforderungen achten, die die Wirtschaft stellt? Die Erwartungen dort scheinen jedenfalls groß. So hat der IT-Executive Club in Hamburg im April 2022 Informatik als Pflichtfach noch in der laufenden Legislaturperiode gefordert. Zur Vorbereitung auf die heutige Berufswelt sei der Umgang mit modernen Technologien in einem geschlossenen Umfeld wie der Schule eine ideale Orientierung.

Die Zeit läuft davon

Dass sich etwas tun muss, gilt gleichwohl als ausgemacht. Der Branchenverband Bitkom hat 2021 Volkes Stimme zum Thema gehört – zumindest 1007 Stimmen, die Umfrage ist repräsentativ. Danach forderten 71 % der Befragten, Informatik als Pflichtfach an allen weiterführenden Schulen ab Klasse 5 einzuführen. 67 % waren darüber hinaus der Meinung, dass der Bund mehr Kompetenzen im Bildungswesen erhalten sollte, um die Digitalisierung der Schulen voranzutreiben. „Die starke Meinung in der Bevölkerung zeigt, wie sehr die Bildungspolitik die Menschen in den letzten Jahren enttäuscht hat“, sagt Bitkom-Präsident Achim Berg. Sie sei wenig ambitioniert und die Vorschläge seien altbacken gewesen.

Das Fazit der Autoren des Informatik-Monitors der GI fällt ähnlich aus: „Obwohl in den zurückliegenden Jahren viel über Digitalisierung und Medien diskutiert wurde, wird die Bedeutung einer verbindlichen informatischen Bildung für alle Schülerinnen und Schüler offensichtlich nicht flächendeckend erkannt.“ Insbesondere in der Bildung fehle eine „breitere Einsicht und Akzeptanz“ der verantwortlichen Stellen sowie ein abgestimmtes und für die Schulpraxis im jeweiligen Bundesland passendes Konzept.

Schleunigst umdenken!

Das Mindset muss sich ändern. In der Zeitschrift Informatik Spektrum ist 2021 eine Übersicht zum Informatikunterricht in Deutschland erschienen. Darin heißt es, dass es nicht um ein „Mehr an Informatikunterricht“ gehe, sondern um die Anerkennung für ein allgemeinbildendes Schulfach Informatik für alle Schüler überhaupt. Bildungspolitische Debatten und Stundentafeln seien eine Seite. „Die andere Seite ist die aktuelle Notwendigkeit, essenzielle Grundlagen der Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft, insbesondere die Ausprägung der dafür notwendigen Kompetenzen, didaktisch geeignet in der Allgemeinbildung für alle fest zu verankern.“ Einige Bundesländer scheinen hier ihre Hausaufgaben noch nicht gemacht zu haben.

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David Schahinian arbeitet als freier Journalist für Tageszeitungen, Fachverlage, Verbände und Unternehmen. Nach Banklehre und Studium der Germanistik und Anglistik war er zunächst in der Software-Branche und der Medienanalyse tätig. Seit 2010 ist er Freiberufler und schätzt daran besonders, Themen unvoreingenommen, en détail und aus verschiedenen Blickwinkeln ergründen zu können. Schwerpunkte im IT-Bereich sind Personalthemen und Zukunftstechnologien.

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