Mit den Augen der Kunden
Von Dirk Bongardt
Alles läuft, aber nichts geht. Wenn die Konversionsraten einbrechen, die Absprungraten in die Höhe schnellen und die Verweildauer auf dem Web-Angebot ein Allzeittief erreicht, richten viele Verantwortliche ihren Blick erst einmal auf die Inhalte. Vor allem, wenn bei einer Sichtprüfung der Technik keine Fehler sichtbar werden. Möglicherweise wäre hier aber ein Perspektivenwechsel angeraten.
Natürlich können es auch die Inhalte sein, aufgrund derer wesentliche Kennzahlen (KPIs) einbrechen: Das Auf- und Abwogen gesellschaftlicher Debatten, ein Shitstorm, der aus den sozialen Netzwerken auf das Web-Angebot überschwappt, ein Kooperationspartner, der in einen Skandal verwickelt wurde, und plötzlich meiden Nutzer das Angebot wie eine ansteckende Krankheit. Die Wahrscheinlichkeit, dass den Marketing-Verantwortlichen solche Ereignisse komplett entgangen sind, ist aber nahezu ausgeschlossen. Die Erklärung für den geringen Erfolg von Web-Applikationen sind mitunter eben doch technische Probleme – allerdings solche, die mit althergebrachtem Web-Monitoring nicht zu sehen sind.
Unterschiedlichste Bedingungen
Verfahren des klassischen Web-Monitoring überwachen die Komponenten eines Web-Auftritts von der Serverseite aus. Sind die Leistungsdaten der Komponenten unauffällig, betrachten die Algorithmen den Web-Auftritt als intakt. Und das Gleiche mutmaßen dann auch Verantwortliche, die sich im Standardbrowser auf ihrem Desktop die Website anschauen.
Dabei bleibt meist unberücksichtigt, dass in freier Wildbahn Nutzer mit einer nahezu grenzenlosen Vielfalt an Konfigurationen auf den Web-Auftritt zuzugreifen versuchen. Sie setzen nicht nur verschiedene Browser in diversen Versionen oftmals mit speziell personalisierter Konfiguration ein, sondern arbeiten auch von unterschiedlichen Betriebssystemen aus, wobei sie Internet-Zugänge mit mehr oder weniger hohen Bandbreiten und mitunter mit vielerlei technischen Einschränkungen nutzen. Dass die Website auf dem PC eines Mitarbeiters ihr bestes Gesicht zeigt, verrät nichts darüber, was ein Nutzer mit einem älteren Smartphone bei schwacher LTE-Verbindung am anderen Ende des Landes zu sehen bekommt.
Sehen, was der Nutzer sieht
Real User Monitoring (RUM), oft auch Real User Measurement genannt, setzt genau da an: Es sammelt die Leistungsdaten einer App oder Website über ein Tool direkt aus dem Endgerät des Benutzers. Normalerweise wird der Real-User-Monitoring-Prozess durch das Hinzufügen eines JavaScript-Snippets zum Header einer Webseite aktiviert. 80 bis 90 % der Wartezeit entstehen nicht im Backend, sondern im Browser des Benutzers, Real User Monitoring kann deshalb wesentlich besser Auskunft über die tatsächlichen Nutzererfahrungen geben als das klassische Downtime-Monitoring des Webservers.
Schwarz auf Weiß
Dieser Beitrag ist zuerst in unserer Magazinreihe „IT & Karriere“ erschienen. Einen Überblick mit freien Download-Links zu sämtlichen Einzelheften bekommen Sie online im Pressezentrum des MittelstandsWiki.
Das Vermessen der tatsächlichen Nutzererfahrungen liefert vor allem Einblicke in die Bandbreite der User und erlaubt es, die Erfahrung einzelner Segmente von Nutzern mit deren Verhalten auf dem Web-Angebot abzugleichen. Dieses Verfahren beantwortet beispielsweise die Fragen, wie sich Verweildauer und Absprungrate in Abhängigkeit von den Antwortzeiten des Servers verändern, ob bestimmte mobile Zugangsarten mit Darstellungsfehlern in Verbindung stehen und welchen Einfluss der Content im Vergleich zur rein technischen Nutzererfahrung auf Kaufabbrüche hat.
Handeln, bevor es zu spät ist
Real User Monitoring erst zu implementieren, wenn sich die Leistungskennzahlen katastrophal verschlechtern, ist das sprichwörtliche Abdecken eines Brunnens, nachdem das Kind bereits hineingefallen ist. Wer frühzeitig – im Idealfall von Anfang an – Verfahren implementiert, die es erlauben, seinen Web- bzw. App-Auftritt durch die Augen der Nutzer zu sehen, kann handeln, bevor erheblicher Schaden entsteht. Diverse Studien zeigen, dass Websites mit besserer Performance in der Regel einen Anstieg in den Bereichen Umsatz, Konversionsrate und Engagement verzeichnen. Kleine Anpassungen an die echten Bedürfnisse der Nutzer können deshalb große Auswirkungen haben. Mit Real User Monitoring erfahren Unternehmen etwas über die unterschiedlichen technischen Umgebungen der Besucher ihrer Website und wo es zu Problemen kommen kann.
Zwar veröffentlichen namhafte Unternehmen immer wieder aktuelle Studien dazu, welche Browser die Nutzer präferieren oder wie hoch der Anteil von Smartphone-Anwendern am Besucheraufkommen im Web inzwischen ist. Aber das sind allgemeine Durchschnittswerte, die im Spezialfall eines einzelnen Web-Auftritts erheblich anders ausfallen können. Real User Monitoring zeigt dagegen auch die verschlungenen Pfade auf, über die sich Besucher auf einer Website bewegen, und macht häufige Einstiegs-, Ausstiegs- und die Seiten mit höherer oder niedrigerer Verweildauer einzeln sichtbar. Damit erhalten Unternehmen die Möglichkeit, die kritischen Stationen der User Journey (bzw. Customer Journey) zu identifizieren und gezielt zu optimieren.
Synthetic User Monitoring – kein Ersatz, sondern eine Ergänzung
Mitunter wird Synthetic User Monitoring als Alternative zum Real User Monitoring betrachtet. Es ist jedoch kein gleichwertiger Ersatz, sondern eine sinnvolle Ergänzung und spielt vor allem in der Einführungsphase eines Web-Angebots eine entscheidende Rolle. Der Name ist auch hier Programm: Synthetic User Monitoring prüft die Funktionalität eines Web-Angebots mithilfe synthetischer Nutzer. Im Klartext sind das Verhaltensskripts, die Benutzerströme emulieren und danach die Verfügbarkeit, Funktionalität und Leistung messen.
Synthetic User Monitoring steht dem klassischen Web-Monitoring näher als dem Real User Monitoring. Es liegt in der Natur der Sache, dass die Entwickler der entsprechenden Skripte nicht alle denkbaren Nutzerumgebungen in den real auftretenden Mengenverhältnissen abbilden können. Und auch die simulierte User Journey bildet eher ein Verhalten ab, das die Entwickler von den Nutzern erwarten oder wünschen, als die Aktionen einer Mehrheit der tatsächlichen Nutzer.
Ein programmierter Client folgt der beabsichtigten User Journey durch die Web-Anwendung, simuliert Transaktionen, die menschliches Verhalten imitieren, und sendet Informationen über die Verfügbarkeit, Funktionalität und Leistung einer Seite. Stoßen die synthetischen Nutzer auf Fehler, erhalten die Administratoren Alarme und können unmittelbar eingreifen. Immerhin lassen sich auf diese Art Probleme identifizieren und eliminieren, auf die ein von den Entwicklern erwarteter Standardnutzer stoßen würde.
Real User Monitoring implementieren
Kaum ein Unternehmen leistet sich den Luxus einer Individualentwicklung. Längst bietet der Markt eine breite Palette an RUM-Werkzeugen, die sich aber in ihrem Leistungsspektrum deutlich unterscheiden. Experten für Real User Monitoring sind mit den Stärken, Schwächen und Alleinstellungsmerkmalen der am Markt erhältlichen Drittanbieterlösungen vertraut und wissen, welche Lösung zum Unternehmen am besten passt. Und sie können die Software so konfigurieren, dass sie exakt auf die gewünschten Ziele abgestimmt die Datenströme analysiert.
Vor der Entscheidung für eine konkrete Lösung sollte eine Bestandsaufnahme stehen: Welche Art von Web-Angebot betreibt das Unternehmen, wer ist die Zielgruppe und welche technischen Herausforderungen und Informationsbedarfe ergeben sich aus diesen beiden Faktoren? Grundfunktionen von RUM-Tools sind im Allgemeinen, die User Journey zu erfassen, Metriken zur Nutzerbindung wie Absprungraten, abgebrochene Kaufvorgänge und Konversionen zu verfolgen. Außerdem lassen sich meist benutzerdefinierte Metriken generieren, die für das Unternehmen von besonderer Bedeutung sind, die KPIs eben.
Zu den Funktionen, die zwischen den verschiedenen RUM-Tools am deutlichsten variieren, gehören die Fähigkeiten, Optimierungsbedarf zu identifizieren und konkret zu spezifizieren sowie die Verantwortlichen zeitnah bei Leistungseinbrüchen und anderen Problemen zu alarmieren. So kann die durchschnittliche Reparaturdauer (MTTR/Mean Time to Repair) auf ein Minimum reduziert werden. RUM-Spezialisten müssen also den Funktionsumfang der Software optimal einsetzen, Ergebnisse zusammenfassen und verwertbar interpretieren sowie kommunizieren können.
Ein weiteres Entscheidungkriterium ist der mit der Implementierung verbundene Aufwand. Eignet sich das RUM-Tool gleichermaßen für den Einsatz in der gesamten Web-Landschaft des Unternehmens, also z.B. sowohl im verwendeten Content-Management-System als auch in den mobilen Apps? Existiert zur Implementierung in Letztere ein SDK? Ist das Tool über die inhouse verwendeten Hardware-Plattformen nutzbar? Bereits bei der Auswahl der Software sind also Experten gefragt, die im Idealfall auch über allgemeine Erfahrungen im Online-Marketing verfügen.
Entwicklerfertigkeiten sind gefragt
Fachleute für Real User Monitoring benötigen, abhängig vom spezifischen Aufgabengebiet, in der Regel ein breites Know-how im Bereich Entwicklung. Zu ihren Aufgaben gehört gleichermaßen die Implementierung des RUM-Systems auf den unterschiedlichen im Unternehmen genutzten Plattformen, zum anderen das eigentliche Monitoring, einschließlich der Segmentierung und der Einrichtung von Alarmen, wenn sich kritische Zustände zeigen. Außerdem sind sie oft auch damit beschäftigt, die Systeme entsprechend der aus dem RUM gewonnenen Erkenntnisse anzupassen. Als Qualifikation nennen viele Unternehmen eine mehrjährige Erfahrung als Entwickler, ein fachbezogenes Studium und/oder eine Fachinformatikausbildung.
Ich weiß, was der User will
Wer in der Lage ist, die zahlreichen RUM-Hilfsmittel und Tools zielgenau einzusetzen, der kann die technischen Komponenten eines Web-Auftritts oder einer Firmen-App optimal auf eine verbesserte Nutzererfahrung abstimmen. Aus Kundenperspektive zählt natürlich in erster Linie der Content, das Angebot und nicht zuletzt die Preise. Wie schnell und problemlos ihm aber diese Inhalte präsentiert werden, entscheidet letztlich darüber, ob er sich von ihnen überzeugen lässt. Und dazu muss man wissen, wie der reale Nutzer tickt und was er sich von einem gelungenen Web-Auftritt erwartet.
Dirk Bongardt hat vor Beginn seiner journalistischen Laufbahn zehn Jahre Erfahrung in verschiedenen Funktionen in Vertriebsabteilungen industrieller und mittelständischer Unternehmen gesammelt. Seit 2000 arbeitet er als freier Autor. Sein thematischer Schwerpunkt liegt auf praxisnahen Informationen rund um Gegenwarts- und Zukunftstechnologien, vorwiegend in den Bereichen Mobile und IT.
Dirk Bongardt, Tel.: 05262-6400216, mail@dirk-bongardt.de, netknowhow.de