Tontechnik: Wie das virtuelle Orchester klingt

In der Welthauptstadt der Musik ist auch die weltgrößte Sammlung digitaler Instrumentensamples beheimatet: Die Vienna Symphonic Library umfasst Streicher, Konzertflügel, Bläser und sogar Chorstimmen, und zwar im natürlichen Raumklang, vom Wiener Konzerthaus bis zur Wallfahrtskirche Maria Straßengel.

Virtuelle Philharmonie

Von Friedrich List

Musikschaffende und Filmkomponisten nutzen die Sounds der Vienna Symphonic Library und anderer digitaler Klangbibliotheken. Insbesondere Filmmusik wird heutzutage meistens digital komponiert: Kaum eine Hollywood-Produktion oder auch nur ein deutscher Tatort kommt ohne Klänge aus der digitalen Konserve aus. Die wenigsten Produktionen haben das Budget für ein echtes Orchester. Und auch viele Größen aus Rock und Pop greifen bei ihren Songs auf digitale Klangarchive zurück.

Mit Cello und Kamera

Hubert Tucmandl, der Gründer des Vienna Symphonic Library, ist sowohl Berufsmusiker als auch Filmschaffender, sein Instrument ist das Cello, und er arbeitete nach dem Studium zunächst zwei Jahre als Berufsmusiker, u.a. spielte er als Einspringer bei den Wiener Philharmonikern. Mit 21 Jahren zog es ihn zum Film. Er ließ sich zum Kameramann ausbilden und begann, selbst Filme zu produzieren, zunächst Werbefilme und Dokumentationen. Dann übernahm er auch die Regie bei Spielfilmen. Über die Jahre begann Tucmandl, seine musikalischen Fähigkeiten und seine Expertise als Filmemacher miteinander zu verbinden. So machte er sich auch als Filmkomponist einen Namen. Von ihm stammt z.B. die Filmmusik für den Allahyari-Tatort „Mein ist die Rache“ (1996) oder für den Film „Geboren in Absurdistan“, ebenfalls von Houchang Allahyari. 2012 erhielt er für seine Filmmusik zu Karl Markovics’Atmen“ eine Auszeichnung der Akademie des Österreichischen Films.

Tucmandl produzierte diese Soundtracks auf der Grundlage von virtuellen Orchestermusik-Datenbanken am Computer. Allerdings stieß er mit Ansprüchen aus der eigenen Berufspraxis als Orchestermusiker dort an künstlerische Grenzen. Den Klängen aus dem Rechner hörte man ihren Ursprung allzu deutlich an. Reale Töne von realen Instrumenten klingen jedes Mal anders, digitale Töne klingen dagegen jedes Mal gleich. Das wollte Tucmandl ändern. So entstanden die ersten Ideen für die eigene digitale Klangbibliothek.

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Schwarz auf Weiß
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Vienna Symphonic Library

Tucmandls Konzept bestand darin, neben Einzelnoten auch Tonverbindungen aufzuzeichnen. Das war zur Zeit der Firmengründung im Oktober 2000 ein echtes Novum. Damals hatten digitale Klangbibliotheken ca. 6000 Samples, mit denen sie ein vollständiges Orchester nachbildeten. Tucmandl wollte zum ersten Mal wirklich lebendige Interpretationen erzeugen können. Also blieb es nicht beim Aufzeichnen von Einzeltönen und kurzen Phrasen.

Für die entstehende Vienna Symphonic Library nahm er eine breite Palette von Spielweisen auf (Legato, Pizzicato, Tonwiederholungen, Läufe in verschiedenen Tempi, Triller, Arpeggien, Flageoletts, Flatterzungen etc.). Einen Grundbestand von einigen Tausend Samples spielte Tucmandl selber mit dem Cello ein. Daraus entstand eine erste Demo, die Geldgeber und Musikexperten überzeugte. Allerdings gab es auch technische und praktische Hürden. Die Rechenleistung der damaligen Computer reichte nicht. Außerdem erwies es sich als unerwartet schwierig, sowohl Musiker als auch Tonstudios für die benötigten Aufnahmen zu finden.

Für die teilnehmenden Musiker war Tucmandls Projekt eine ungewöhnliche und vor allem anstrengende Aufgabe. Sie erforderte nicht nur präzises Spiel, sondern auch Ausdauer und Konzentration, denn die Arbeit hieß, monatelang in einem Aufnahmestudio zu sitzen und dort Einzeltöne und kurze Phrasen in gleichbleibender Qualität zu spielen. Und kein Tonstudio stand über Monate zur Verfügung und konnte die nötigen akustischen Bedingungen dauerhaft sicherstellen.

Also baute sich die VSL ein eigenes Studio in Ebreichsdorf im Wiener Süden. Diese „Silent Stage“ bot bis zum Umzug in neue, größere Räumlichkeiten eine gute Arbeitsumgebung. Bis heute haben dort über 200 Musiker und Sänger Aufnahmen eingespielt. Inzwischen wurden von so gut wie allen Instrumenten eines symphonischen Orchesters einzeln und in den jeweiligen Gruppen Aufnahmen produziert. Hinzu kommt der virtuelle Vienna Choir, ein großer gemischter Chor, der das Gegenstück zum symphonischen Orchester bildet.

Klangwelten und Software

Im Dezember 2002 brachte die Vienna Symphonic Library ihre ersten Produkte auf den Markt. Zu dieser First Edition gehörten die Module Strings, Brass & Woodwinds, Percussion und das Performance Set. Ein halbes Jahr später, im Sommer 2003, folgte die Pro Edition, die die Zahl der verfügbaren Samples auf 390.000 verdoppelte. Zum Jahresende erschien dann die Horizon Series mit kleineren Paketen. Die VSL erweiterte mit diesen Produkten die Grenzen des Machbaren, denn sie umfassten auch die sogenannten Performance Elements mit der ersten VSL-Software: Das Performance Tool ermöglichte Legato und Tonwiederholungen in Echtzeit.

Als Nächstes folgte der Vienna Instruments Player, und Ende 2005 kamen die Vienna Instruments auf den Markt. Diese virtuellen Instrumente können fast jede klangliche Eigenheit eines Instruments oder eines Ensembles naturgetreu nachbilden. Die Vienna Suite vom Herbst 2008 ist eine Sammlung von Effekt-Plug-ins zur Tonbearbeitung, die zum ersten Mal auf 64-Bit-Computern genauso wie auf 32-Bit-Maschinen eingesetzt werden konnte und in der PC-Welt genauso funktionierte wie auf Apple-Rechnern. Vienna Ensemble Pro erschien 2009 und war die erste Netzwerklösung, die PCs und Macs durch ein einfaches Ethernet-Kabel verbinden konnte. Nun können MIDI- und Audiodaten ohne zusätzliche Hardware zwischen Host- und Slave-Rechnern der verschiedenen Betriebssysteme ausgetauscht werden.

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Streicher in allen Varianten: 961,9 GByte freien Speicherplatz braucht allein das Synchron Strings Bundle (Full Library) der VSL. (Bild: Vienna Symphonic Library GmbH)

Nicht mehr ausschließlich um den Klang einzelner Instrumente oder Ensembles ging es bei der Entwicklung von Vienna Mir. Diese Software sollte 2009 den Klang ganzer Konzertsäle authentisch und in Echtzeit auf einem einzigen Computer reproduzierbar machen. Das Prinzip dahinter: So wie sich Instrumente in der ganzen Bandbreite ihres Klangs samplen lassen, kann man auch die akustischen Eigenheiten eines bestimmten Raumes digital erfassen. Dabei nehmen Tontechniker die „Antwort“ eines Raumes auf einen definierten akustischen Impuls auf und verarbeiten sie in einem mathematischen Prozess mit einem anderen, trockenen Signal. Das Ergebnis hört sich an, als wäre das Signal tatsächlich in diesem Raum aufgenommen worden. Anwender von Vienna Mir können den Standort von Instrumenten und Signalquellen auf der Bühne eines ausgewählten Raumes an einer bestimmten Position festlegen. Das fertige Produkt klingt dann, als sei es in diesem Raum entstanden.

2017 erschien dann der Vienna Synchron Player, dessen Samples im neuen Aufnahmestudio, der Synchron Stage, produziert worden waren. Der Vienna Synchron Player zeichnet sich durch eine völlig neue Audio-Engine und neue Algorithmen aus, die sowohl für verbesserten Bedienkomfort als für ein besseres akustisches Erlebnis sorgt.

Ganz großes Kino

Die Synchron Stage hatte die VSL bereits im Frühjahr 2016 bezogen. Bei dem Gebäude handelt es sich die historische Synchronhalle auf dem Gelände der Rosenhügel-Studios des Österreichischen Rundfunks. Die in den 1940er Jahren errichtete Halle steht unter Denkmalschutz. Hier entstand bis September 2015 eine neue Produktionsstätte: Aufnahme- und Regieräume, Editing-Studios und Einzelkabinen auf 2000 m². In zwei Instrumentenlagern stehen Klaviere und Konzertflügel und rund 300 Schlaginstrumente bereit. Hinzu kommen Notenarchiv, Aufenthaltsräume, Büros und Lounges für Mitarbeiter, Musiker und Komponisten.

Als erste Produktion am neuen Ort nahm die VSL im Oktober 2015 die Filmmusik der Sissi-Trilogie mit Romy Schneider neu auf. Damit gelang ein historischer Brückenschlag, denn bereits die Originalmusik war 1955–1957 in der damaligen Synchronhalle eingespielt worden. Die Partitur galt viele Jahre als verschollen. Deswegen war sie bis dahin nicht als CD oder Download verfügbar gewesen.

Seit 2016 produziert die VSL auf der Synchron Stage Musik für nationale und internationale TV- und Filmprojekte. Schon kurz nach der Eröffnung beauftragte die Produktionsfirma des renommierten Hollywood-Komponisten Hans Zimmer die VSL mit mehreren Projekten. Neben Zimmer gehören u.a. A. R. Rahman und James Newton Howard zum Kundenstamm, auch Popgrößen wie Beyoncé, Justin Timberlake oder Lenny Kravitz haben hier schon Musik eingespielt.

Das Vienna Symphonic Library ist das Musterbeispiel eines zunächst kleinen, aber hartnäckigen Players in einer Nische, der diese Nische letztlich neu definiert. Vergleichbare Unternehmen wie die Berliner Unternehmen Orchestral Tools und Native Instruments, die Firma Spitfire Audio aus London oder 8DIO aus San Francisco müssen sich an der VSL messen lassen.

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Friedrich List ist Journalist und Buch­autor in Hamburg. Seit Anfang des Jahr­hunderts schreibt er über Themen aus Computer­welt und IT, aber auch aus Forschung, Fliegerei und Raum­fahrt, u.a. für Heise-Print- und Online-Publikationen. Für ihn ist SEO genauso interessant wie Alexander Gersts nächster Flug zur Inter­nationalen Raum­station. Außerdem erzählt er auch gerne Geschichten aus seiner Heimatstadt.

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