Urban Farming: Wer mitten in Berlin Gemüse anbaut

Aus den Städten Europas ist die Land­wirtschaft so gut wie völlig ver­schwun­den. Jetzt aber hält sie in neuer Gestalt wieder Ein­zug: Ob City-Imker oder Basilikum direkt vom Dach – etliche Bei­spiele zeigen, wie zeit­gemäße urbane Agri­kultur aus­sehen kann und was einen Stadt­bauern von heute ausmacht.

Von Großstadtbarschen und Citymöhren

Von Friedrich List

Landwirtschaft in der Stadt ist zumeist im wörtlichen Sinn eine Randerscheinung. Aus den Städten ist sie so gut wie völlig verschwunden. Im Mittelalter und bis in die Neuzeit hinein war das anders. Ackerbürger bewirtschafteten die Feldmarken, also Land, das der Stadt gehörte oder hatten Land, das anderen Stadtbürgern gehörte, in Pacht. Hinzu kamen Obst- und Gemüsegärten sowie die Zucht von Nutztieren wie Kaninchen, Geflügel, Ziegen, Schweinen oder sogar Kühen zum Eigenbedarf, die die meisten Stadtbewohner betrieben. Diese Art von Landwirtschaft zum Eigenbedarf war noch bis in die zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts häufig anzutreffen, verschwand aber im Zuge der Mechanisierung der Landwirtschaft und des Aufkommens von Supermärkten.

Der Trend zur eigenen Scholle

Doch seit einiger Zeit scheint sich der Trend umzukehren. Städtische Landwirtschaft oder, weil’s cooler klingt: „urban farming“, wird wieder populär. In vielen Ballungsräumen Deutschlands und Europas, aber auch in anderen Teilen der Welt nutzen immer mehr Menschen Brachflächen, Dachgärten, ihre Balkone oder regelrechte Gewächshäuser auf Dächern oder in Gewerbegebieten, um Landwirtschaft zu betreiben. Was die modernen Agronomen betreiben, umfasst nahezu die gesamte Palette der traditionellen Naturalienproduktion. Das kann der Anbau von Gemüse und anderen Nutzpflanzen sein, aber auch die Zucht von Kleinvieh, Schweinen oder Fisch sowie die Imkerei. Zum Teil sind das Initiativen zur Selbstversorgung und Selbsthilfe, aber unter dem Stichwort Urban Farming verbirgt sich auch ein neuer Ansatz in der kommerziellen Landwirtschaft.

Dabei ist die sogenannte vertikale Landwirtschaft (Vertical Farming) sogar eine ausgesprochen industrielle Produktionsweise. Hier dient ein vielstöckiges Gebäude als Produktionsstätte, wobei in den oberen Etagen Viehzucht betrieben wird, darunter Feldwirtschaft. Ein zentraler Aspekt der vertikalen Farm ist die Wiederverwendung von Rückständen. So werden Pflanzenabfälle und die Fäkalien des Viehs als Dünger wieder in den landwirtschaftlichen Zyklus reintegriert. Zur Bewässerung wird Regenwasser genutzt, dass von Pflanzen gefiltert und gereinigt wird. Ein Teil der benötigten Elektrizität kommt natürlich aus Solarzellen.

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Schwarz auf Weiß
Dieser Beitrag ist zuerst in unserer Magazin­reihe „IT & Karriere“ erschienen. Einen Über­blick mit freien Down­load-Links zu sämt­lichen Einzel­heften be­kommen Sie online im Presse­zentrum des MittelstandsWiki.

Frisch und ökologisch

Die Motive der urbanen Bauern sind vielschichtig. In den USA entdecken viele Einwohner urbaner und unterversorgter Problemviertel, dass dies der preiswerteste Weg ist, an frische Lebensmittel zu kommen. Andere bauen vorrangig für den Eigenbedarf unbehandelte Agrarprodukte an. Stadtimker, wie sie inzwischen in Hamburg, Berlin, München und anderen großen Städten aktiv sind, bieten nicht nur eine Alternative zum Honigmix aus dem Supermarkt. Sie leisten auch einen Beitrag gegen das Bienensterben, mit dem die Imker auf dem flachen Land zu kämpfen haben.

Ebenso vielfältig ist der berufliche Hintergrund der neuen Stadtbauern. Manche haben bereits als Landwirte gearbeitet oder einen landwirtschaftsnahen Beruf erlernt. Viele kommen jedoch ursprünglich aus ganz anderen Berufen und betreiben Landwirtschaft oder Imkerei nur als Nebenerwerb oder Liebhaberei. Aber immer häufiger gibt es auch Start-up-Gründer mit solidem Background, die die urbane Landwirtschaft von Anfang an als Geschäftsmodell sehen.

Aquaponik in the City

2012 gründeten Christian Echternacht und Nicolas Leschke zusammen mit anderen Mitstreitern in Berlin das Unternehmen Efficient City Farming (ECF). Sie wollten beweisen, dass man mithilfe von Aquaponik mitten in der Stadt nachhaltige und gewinnbringende Landwirtschaft betreiben kann. Mit Aquaponik bezeichnet man eine Vorgehensweise, bei der gleichzeitig Fische und Nutzpflanzen gezüchtet werden. Das ist im Prinzip die Verbindung von Aquakultur und Hydroponik. Die Fische im Aquarium, also in den Zuchtbecken, liefern mit ihren Ausscheidungen den Dünger für die Pflanzen. Die wiederum wachsen im nährstoffreichen Wasser und dienen dabei auch als Kläranlage. „Das Wasser kann also doppelt genutzt werden und macht damit die Fischzucht im Container ökonomisch“, erklärt Echternacht im Interview mit der Süddeutschen Zeitung.

Weder er noch Nicolas Leschke kommen ursprünglich aus der Landwirtschaft. Echternacht ist gebürtiger Gelsenkirchener und half zunächst seinem Bruder, Fußballprofi zu werden. Er studierte Medizin, brach das aber ab, um während des Internet-Booms in den 1990er Jahren eine Internet-Agentur und ein Stadtmagazin zu gründen. 2003 ließ er sich in Berlin nieder, um für den Künstler und Musiker Brian Eno zu arbeiten. Leschke hat an verschiedenen internationalen Business- und Management-Schulen studiert und arbeitete dann in Entwicklungsprojekten in Indien und Afrika. Bei diesen Projekten versuchte er mal mit, mal ohne Erfolg, die Lebenssituation der Menschen vor Ort zu verbessern. Schließlich wurde er stellvertretender Geschäftsführer der Malzfabrik in Berlin-Tempelhof, einem Zentrum für Gründer und Kreative aller Art. Neben der Geschäftsführung beriet er auch Jungunternehmer.

Serie: Smart City

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Teil 1 gibt eine erste Einführung und stellt als Beispiele die Konzepte in Hamburg, Berlin und Göttingen vor. Teil 2 geht nach Bayern und berichtet, was sich in den Münchner Modellvierteln tut. Teil 3 wechselt über die Grenze nach Österreich – dort hat man nämlich bereits eine nationale Smart-City-Strategie und ist führend im Passivhausbau. Teil 4 stürzt sich dann mitten in die Metropolregion Ruhrgebiet und berichtet unter anderem von der digitalsten Stadt Deutschlands. Den deutschen Südwesten nimmt sich zuletzt Teil 5 dieser Serie vor. Ein Extrabeitrag hat außerdem Beispiele dafür zusammengetragen, was Green IT zur Smart City beitragen kann. (Bild: zapp2photo – Fotolia)

Ökologische Ökonomie

Zu Fisch und Gemüse kam Leschke, als der damalige Malzfabrik-Chef Frank Sippel auf der Suche nach Geschäftsideen in Kontakt mit der Baseler Firma Urban Farmers AG kam. Das Schweizer Unternehmen war damals Vorreiter auf dem Gebiet der Aquaponik. Sippel nahm die Idee mit nach Berlin, aber am Anfang wollte das Konzept nicht so recht funktionieren. Die ersten Versuche waren kein Erfolg, weil der optimale pH-Wert für Gemüse und Fisch nicht derselbe ist. „Wenn es den Pflanzen im Wasserkreislauf gut ging, wuchsen die Fische zu langsam heran“, sagt Echternacht. „Oder es war genau umgekehrt.“

Unterstützung fanden die Aquaponik-Pioniere schließlich beim Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei am Berliner Müggelsee. Dort hatten sich bereits zu Zeiten der DDR einige Wissenschaftler dafür interessiert, Fisch- und Gemüsezucht zu kombinieren. Die Forschungen hatten sogar zu einem funktionierenden und patentierten Verfahren geführt. Auf dieses bauten die ECF-Gründer nun auf. Auf dem Gelände der Malzfabrik errichteten sie eine Containerfarm, in der die Aquaponik endlich funktionierte, sich aber wirtschaftlich noch nicht lohnte. Dafür war die Farm einfach zu klein. Also machten sich die ECF-Gründer auf die Suche nach Investoren für ein größeres Projekt, das ebenfalls auf dem Gelände der Malzfabrik entstehen sollte. Inzwischen betreibt ECF tatsächlich eine 1800 m²große Aquaponik-Anlage auf dem Gelände der Malzfabrik. Sie nahm 2015 den Betrieb auf und beliefert den Lebensmitteleinzelhandel mit Buntbarschen und Basilikum. 2016 folgte eine zweite Farm mit 1100 m²in Bad Ragaz in der Schweiz. Hier nutzt die ecco-jäger Früchte und Gemüse AG die ECF-Expertise, um Hotels, Restaurants und Catering-Dienste mit Buntbarschen, Salaten und Kräutern zu versorgen.

Heute betreibt ECF nicht nur den Aquaponik-Betrieb in Berlin, sondern berät außerdem Gründer und andere Unternehmen beim Aufbau eines eigenen landwirtschaftlichen Betriebs nach dem ECF-Modell. Die bisher größte Anlage wurde 2018 in Brüssel fertiggestellt.

Die essbare Stadt

Andere Projekte haben eher gemeinschaftsorientierten Charakter. Die Bremer Gemüsewerft bietet nichterwerbsfähigen Menschen arbeitsmarktnahe Beschäftigungsmöglichkeiten. Die Stadt Andernach in Rheinland-Pfalz baut in ihrem Projekt „Essbare Stadt“ seit 2010 auf einem Teil der öffentlichen Grünflächen Obst und Gemüse an. Hier heißt es nicht „Betreten verboten!“, sondern „Pflücken erlaubt“; wer vorbeikommt, darf ernten.

Am Beispiel der österreichischen Stadt Linz ist gut erkennbar, wie bedeutsam Landwirtschaft in der Stadt wieder werden kann. In Linz gibt es rund 130 bäuerliche Betriebe. Von ihnen sind 80 aktive landwirtschaftliche Betriebe, den Rest bilden Kleinstbetriebe. Unter den aktiven Landwirten sind Rinderbauern, Schweinebauern, Pferdelandwirte, Geflügelhalter, Ziegen- und Schafhalter und reine Ackerbauern. Die Linzer Bauern verteilen sich auf vier Ortsbauernschaften, drei davon betreiben hauptsächlich Ackerbau, die vierte im Stadtteil Urfahr konzentriert sich auf Tierhaltung. Zahlreiche Stadtbauern betreiben Hofläden, in denen sie ihre Produkte anbieten. Viele kommen aus der traditionellen Landwirtschaft, sind also Familienbetriebe mit der entsprechenden Tradition. Die Kunden finden sich oft schon im nahen Wohnumfeld und schätzen die Nähe zum Produzenten sowie die Möglichkeit, sich direkt über die Herkunft und Herstellung der verschiedenen Produkte informieren zu können.

Meine kleine Farm

Stadtbauer kann im Prinzip jeder sein, der Zugang zu ein paar Parzellen Grünfläche hat. Wer daraus einen Beruf machen will, braucht allerdings dasselbe Rüstzeug wie jeder andere Selbstständige – also neben Kenntnissen der Materie auch Erfahrungen als Kaufmann, Vermarkter sowie organisatorisches Geschick und handwerklich-technische Fertigkeiten. Für Landwirtschaft in der Stadt spricht nicht nur das ökologische Potenzial, sondern auch die große Nähe zum Verbraucher. Damit sinken auch die Transportkosten. Es ist durchaus möglich, dass die Ballungsräume der Zukunft nicht ohne Stadtbauern und vertikale Farmen auskommen.

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Friedrich List ist Journalist und Buch­autor in Hamburg. Seit Anfang des Jahr­hunderts schreibt er über Themen aus Computer­welt und IT, aber auch aus Forschung, Fliegerei und Raum­fahrt, u.a. für Heise-Print- und Online-Publikationen. Für ihn ist SEO genauso interessant wie Alexander Gersts nächster Flug zur Inter­nationalen Raum­station. Außerdem erzählt er auch gerne Geschichten aus seiner Heimatstadt.

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