Vehicle to Everything: Wie Fahrzeuge mit Fahrzeugen sprechen

Wenn selbststeuernde Autos auf die Straßen kommen, brauchen sie in Echtzeit Informationen über andere Verkehrsteilnehmer – am besten, indem sie Sensordaten untereinander und mit der Infrastruktur austauschen. Ein Forschungsprojekt in Graz hat dafür die FOSS-Sammlung vehicleCAPTAIN toolbox entwickelt.

Autonomes Hupen

Von Dirk Bongardt

Wenn das Auto selbst die beste Abkürzung kennt und weiß, welche Straßen in diesem Augenblick gesperrt sind, dann könnte V2X dahinter stecken. Denn nicht wir müssen miteinander reden. Es reicht, wenn die Fahrzeuge sich verständigen.

Das Vehicle-to-Everything-Konzept, kurz V2X, ist ein wegweisender Ansatz in der Automobilindustrie. Dabei geht es darum, wie Fahrzeuge mit ihrer Umgebung kommunizieren. Dabei sind die Autos nicht nur untereinander verbunden, sondern auch mit der Verkehrsinfrastruktur, mit Fußgängern und anderen Verkehrsteilnehmern. Dies ermöglicht sicherere Straßen, weil z.B. Informationen über Unfälle oder Hindernisse in Echtzeit ausgetauscht werden. Zudem kann V2X den Verkehrsfluss optimieren, indem es Fahrzeuge über optimale Routen informiert und so den Verkehr insgesamt effizienter gestaltet.

V2X-Forschung in Graz

Die Virtual Vehicle Research GmbH ist ein Forschungs- und Entwicklungszentrum, das sich auf die Automobil- und Bahnindustrie spezialisiert hat. Mit Sitz in Graz und etwa 300 Mitarbeitern ist sie Europas größtes Forschungszentrum für virtuelle Fahrzeugtechnologie. Die Forschungsschwerpunkte liegen in der Verbindung von numerischen Simulationen und Hardware-Tests, mit dem Ziel, ein leistungsstarkes Hardware-Software-Gesamtsystemdesign zur Automatisierung von Test- und Validierungsverfahren bereitzustellen. Die Forschungsergebnisse von Virtual Vehicle sind ein wichtiger Innovationsfaktor zukünftiger Fahrzeugtechnologien.

Das Unternehmen wurde im Jahr 2002 gegründet und hat seitdem eine starke Partnerschaft mit nationalen und internationalen Partnern aus der Industrie aufgebaut, darunter OEMs, Tier-1- und Tier-2-Zulieferer sowie Software-Anbieter. Auch mit mehr als 40 nationalen und internationalen wissenschaftlichen Einrichtungen arbeitet Virtual Vehicle nach eigenen Angaben zusammen. Virtual Vehicle ist ein wichtiger Akteur in der Automobilindustrie. Das Unternehmen hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten, darunter (in Gestalt der ALP.Lab GmbH) den Österreichischen Staatspreis Mobilität. Darüber hinaus pflegt das Unternehmen eine intensive Zusammenarbeit mit der Technischen Universität Graz und ist in der akademischen Welt sehr präsent.

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Schwarz auf Weiß
Dieser Beitrag erschien zuerst in unserer Heise-Beilagenreihe „IT-Unternehmen in Österreich stellen sich vor“. Einen Überblick mit freien Download-Links zu sämtlichen Einzelheften bekommen Sie online im Pressezentrum des MittelstandsWiki.

vehicleCAPTAIN toolbox

Anfang 2023 hat Virtual Vehicle die Plattform vehicleCAPTAIN toolbox als freie Open-Source-Software veröffentlicht. Mit der Freigabe dieser Basissoftware soll auch anderen Forschungseinrichtungen die anfängliche Entwicklungsarbeit erleichtert werden. Dieses Set von Programmen ist auf GitHub verfügbar: https://github.com/virtual-vehicle/vehicle_captain_toolbox.

Darunter sind verschiedene Teile, die dabei helfen, Informationen zwischen Fahrzeugen und anderen Entitäten auszutauschen, z.B. gibt es eine Bibliothek namens vcits, die spezielle Nachrichten verarbeiten kann. Eine andere Komponente erlaubt es, mit einer einzigen Schnittstelle verschiedene Arten von Hardware in Fahrzeugen zu nutzen. Und schließlich gibt es auch Unterstützung für ROS 2. ROS 2 steht für „Robot Operating System 2“ und ist ein fortschrittliches Betriebssystem für Roboter und autonome Systeme. Anders als ein Betriebssystem für Computer konzentriert sich ROS 2 darauf, die Entwicklung, Kontrolle und Koordination von Robotern und verwandten Geräten zu erleichtern.

Die Toolbox enthält außerdem nützliche Werkzeuge wie einen ASN.1-Parser, der bei der Verarbeitung von Informationen hilft. Die Toolbox ist in verschiedene Teile aufgeteilt, die alle dazu beitragen, dass Fahrzeuge besser miteinander und mit anderen Dingen kommunizieren können.

Im Praxistest auf der Straße

Virtual Vehicle arbeitet mit ADDs (Automated-Drive-Demonstratoren). Das sind straßenzugelassene autonome Fahrzeuge, die die Praxistauglichkeit der Forschungsergebnisse im echten Straßenverkehr erkunden sollen. Bei der Frage nach umfassenden Tests von Hardware- und Softwarekomponenten, wie Sensoren, Wahrnehmungsalgorithmen und dynamischer Objekterkennung, spielen ADDs eine entscheidende Rolle, denn sie bringen Entwicklungen aus dem Labor auf die Straße. Verschiedene Komponenten werden in ein selbstfahrendes Auto integriert, sodass sie in realen Situationen getestet und validiert werden können. Hierzu gehören Aufgaben wie HD-Kartierung, Sensorabstimmung und Datenaufzeichnung sowie die Prüfung von Kollisionserkennungssystemen, adaptivem Tempomaten und Spurwechselassistenten. Auf Teststrecken und Autobahnen werden diese Technologien bereits erprobt.

Die Schlüsselrolle bei der Bereitstellung und Zertifizierung hochautomatisierter Fahrzeuge liegt in der geschickten Kombination von virtuellen und realen Teststrategien. In der Forschung konzentriert sich Virtual Vehicle auf zwei Hauptthemen: virtuelle Validierungs- und Verifizierungsansätze mit entsprechenden Entwicklungs- und Simulationstechnologien sowie die Übertragung von realen Szenarien in die virtuelle Welt mithilfe sogenannter digitaler Zwillinge.

Die virtuelle Fahrzeugentwicklung hat sich als Schlüssel zur erfolgreichen Bereitstellung von Methoden und Prozessen für die Industrie erwiesen. Vier solcher automatisierten Fahrdemonstratoren wurden im Forschungszentrum von Virtual Vehicle entwickelt. Die Forschungseinrichtung nimmt auch an Rennwettbewerben wie der Indie Autonomous Challenge teil. Damit erzielt das Unternehmen nicht nur eine große Publicity, die Forscher gewinnen aus den Wettbewerben auch weitere Erkenntnisse, die dann wieder in die Entwicklungsarbeit einfließen.

Headstart für Prüfverfahren

Headstart steht nur für englisch „Vorsprung“, sondern konkret für „Harmonized European Solutions for Testing Automated Road Transport“, ein von der EU finanziertes Projekt mit 17 Partnern. Das Ziel ist es, Prüf- und Validierungsverfahren für vernetzte und automatisierte Fahrfunktionen zu definieren, einschließlich relevanter Schlüsseltechnologien wie Kommunikation, Cybersicherheit und Positionsbestimmung.

Im Rahmen des Headstart-Projekts werden die neu entwickelten Lösungen gemäß den Anforderungen der wichtigsten Benutzergruppen validiert. In diesem Konsortium zeichnet Virtual Vehicle für das neu entwickelte Prüfverfahren verantwortlich. Das Unternehmen hat einen hybriden Ansatz entwickelt, der bestehende Testverfahren wie Bodentests, Simulationen und Tests im realen Straßenverkehr miteinander verknüpft.

Ein besonders bemerkenswerter Test fand im Rahmen dieses Projekts in Zusammenarbeit mit dem Projektpartner 4a Systems statt. Der Schwerpunkt lag dabei auf dem Test von V2X-Technologie: Ein autonomes Fahrzeug folgt einem anderen Fahrzeug, das die Sicht auf ein stehendes Fahrzeug blockiert. Das vorausfahrende Auto wechselt die Fahrspur so spät, dass ein rechtzeitiger Halt allein auf Basis der visuellen Sensoren nicht mehr möglich ist. Dank des V2X-Signals kann das autonome Fahrzeug dennoch einen Aufprall vermeiden.

Im AutoDrive-Kernteam

Das Projekt AutoDrive ist ein europäisches Exzellenzprojekt, das nach drei Jahren mit 58 Partnern aus 13 Ländern erfolgreich abgeschlossen wurde. Im Mittelpunkt des Projekts stand die Frage: Welche Soft- und Hardwarekonzepte sind für hochautomatisierte Fahrzeuge der Zukunft erforderlich? Auch bei Software- oder Hardwarefehlern müssen die Fahrzeuge ja durch entsprechende Diagnose und Redundanz ihre Fahraufgabe zuverlässig erfüllen können.

Die Entwicklung von Systemen, die im Fehlerfall die Fahraufgabe weiter übernehmen, anstatt sie an den Fahrer zu übergeben, war ein wesentlicher technologischer Fortschritt dieses Projekts. Virtual Vehicle gehörte zum Kernteam des Projekts und war verantwortlich für einen der zehn Themenschwerpunkte: aktive Sicherheit. Die Entwicklungsergebnisse wurden erfolgreich in automatisierte Testfahrzeuge integriert und auf Teststrecken erprobt. Zu den wichtigsten Ergebnissen gehören spezielle Fusionsalgorithmen, ein Notausweichassistent sowie Hardware zur Störsignalminimierung.

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Dirk Bongardt hat vor Beginn seiner journalistischen Laufbahn zehn Jahre Erfahrung in verschiedenen Funktionen in Vertriebsabteilungen industrieller und mittelständischer Unternehmen gesammelt. Seit 2000 arbeitet er als freier Autor. Sein thematischer Schwerpunkt liegt auf praxisnahen Informationen rund um Gegenwarts- und Zukunftstechnologien, vorwiegend in den Bereichen Mobile und IT.


Dirk Bongardt, Tel.: 05262-6400216, mail@dirk-bongardt.de, netknowhow.de

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