Smart Grids in Österreich: Wo Sektoren­kopplung neue Netze testet

Die Versorgungs­netze der nahen Zu­kunft werden intel­li­genter und kom­plexer sein als heute. Bis­lang sind die öster­reichi­schen Netze noch stark zen­tra­li­siert, zudem spielen die Strom­kunden eher eine passive Rolle. Das soll sich ändern. Der Um­stieg auf künftige Smart Grids ist bereits in vollem Gange.

Strom vom Dach in die Blockchain

Von Friedrich List

Ein Smart Grid verbindet eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Akteure: Erzeuger, Speicher und Verbraucher, konventionelle Großkraftwerke, Windfarmen, Fotovoltaikanlagen und Wasserkraftwerke verschiedener Größen und Kapazitäten, aber auch kleinere Produzenten wie Erzeugergenossenschaften und Privatleute mit Solaranlage, die überschüssigen Strom ins Netz einspeisen. Aus Stromkonsumenten werden sogenannte Prosumer.

Bürgerteilhabe am Energiemarkt

In Zukunft werden immer mehr Menschen nicht nur Strom abnehmen, sondern auch zu Hause Strom für den Eigenbedarf produzieren. Und sie werden ihn auch verkaufen, zum Beispiel an Nachbarn, oder sich in lokalen Gemeinschaften zusammenschließen. „Die Marktliberalisierung und neue, immer günstiger werdende Technologien der Stromerzeugung haben zu ganz neuen Bedürfnissen und Anforderungen geführt. Unser großes Ziel ist es nun, Österreich als europäischen Leitmarkt zu positionieren und gleichzeitig allen Bürgerinnen und Bürgern die aktive Teilnahme am Energiemarkt zu ermöglichen“, sagte Dr. Angela Berger, Geschäftsführerin der Technologieplattform Smart Grids Austria gegenüber der Wiener Zeitung.

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Smart Grids verbinden Erzeuger, Speicher und Verbraucher/Prosumer in einem digital gesteuerten, elastischen Netz. (Bild: Smart Grids Austria)

Und tatsächlich hat Österreich in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Projekten auf den Weg gebracht, um den Wandel zum Smart Grid voranzutreiben. Ziel dabei ist keine vordergründige Marktliberalisierung, sondern der Aufbau eines umweltgerechten, idealerweise klimaneutralen Energiesystems, das weitgehend auf erneuerbaren Energien beruht. Das maßgebliche Planungspapier ist die 2018 beschlossene Klima- und Energiestrategie #mission 2030, die bis zu diesem Jahr den Gesamtstromverbrauch zu 100 % aus erneuerbaren Energiequellen decken will. Sektorenkopplung, also die Um- und Rückwandlung der unterschiedlichen Energieträger, soll die Versorgung flexibler machen. Und: „Den Bürgerinnen und Bürgern soll in Zukunft ermöglicht werden, aktiv am Energiesystem zu partizipieren“. Das Hauptziel der Strategie ist die Absenkung der Treibhausgasemissionen auf 36 % (bezogen auf das Jahr 2005).

Mit drei Flaggschiff-Projekten – eines davon betrifft Smart Grids – ist Österreich seit 2018 auch im europäischen Netzwerk Mission Innovation beteiligt, in dem sich 23 Einzelstaaten und die Europäische Union mit Unternehmen zusammenfinden, um Lösungen für den Klimawandel zu finden. In Tirol (Hall und Innsbruck) ist für 20. bis 24. April 2020 bereits die erste Mission Innovation Austria Week geplant.

Mehr Ökostrom, mehr Förderung

Zurzeit liefern erneuerbare Quellen etwa 33,5 % aller in Österreich erzeugten Energie. Bei der Stromerzeugung ist der Wert bereits wesentlich besser: 72 % des Stroms stammen aus erneuerbaren Energiequellen, vor allem aus Wasserkraftwerken, der Rest verteilt sich auf Windkraft, Fotovoltaik und Biomasse. 2018 verbrauchte Österreich etwa 66 TWh Strom. Um die 100-Prozent-Marke zu erreichen, müsste der Anteil aus erneuerbaren Energien um 35 TWh wachsen. Die Produktion von Solarstrom müsste von den 2017 erzeugten 1, 2 GW auf etwa 12 GW im Jahre 2030 wachsen. Der Anteil von Strom aus Windkraft müsste um das Zweieinhalbfache von 2, 8 GW auf rund 7 GW steigen.

Neben den großen Wasserkraftwerken hat Österreich speziell im Alpenraum auch zahlreiche Pumpspeicher. Um den Anteil der erneuerbaren Energien weiter zu erhöhen und die gesteckten Ziele zu erreichen, müssen weitere Kapazitäten hinzukommen. Das können zusätzliche Windkraftwerke oder Fotovoltaikanlagen sein, aber auch kleinere Wasserkraftwerke. Allerdings müssten dann auch mehr Stromkonsumenten zu Prosumenten werden und selbst produzierten überschüssigen Strom vermarkten.

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Schwarz auf Weiß
Dieser Beitrag erschien zuerst in unserer Heise-Beilagenreihe „IT-Unternehmen aus Österreich stellen sich vor“. Einen Überblick mit freien Download-Links zu sämtlichen Einzelheften bekommen Sie online im Pressezentrum des MittelstandsWiki.

Um Smart-Grid-Lösungen zu entwickeln und unter realen Bedingungen zu testen, hat Österreich fünf Modellregionen geschaffen: Salzburg, Oberösterreich, Vorarlberg, Steiermark und den Großraum Linz. Hier entstehen Lösungen, die als Vorlagen für den weiteren Umbau des Energienetzes dienen sollen. Hinzu kommen Projekte wie die Seestadt Aspern in Wien, die vergleichbare Ziele haben.

Die österreichische Bundesregierung fördert derartige Vorhaben auf breiter Front über ihren Klima- und Energiefonds. Außerdem vergibt der Fonds Zuschüsse für Maßnahmen, die den Ausstoß von Treibhausgasen senken. Zwischen 2007 und 2017 belief sich die gesamte Förderung auf 1,1 Milliarden Euro für über 110.000 einzelne Vorhaben. Hinzu kommen Förderprogramme des Bundesministeriums für Verkehr, Innovation und Technologie, der einzelnen Bundesländer und der Österreichischen Forschungsförderungsgesellschaft.

Smart-Grid-Testgelände

In der Seestadt Aspern etwa untersucht die Initiative Aspern Smart City Research (ASCR) intelligente Energietechnologien. Zu diesem Zweck hat man ein Studentenheim, ein Mehrparteienhaus und den Campus von Aspern zu Smart Buildings umgerüstet. Die Gebäude verfügen nun über Stromspeicher, Wärmepumpen und Fotovoltaikanlagen, Messgeräte wie eine Wetterstation zeichnen Umweltdaten auf, während andere Sensoren den Stromverbrauch und die Zimmertemperatur messen. Die Nutzer können ihren Verbrauch selber überwachen und regeln. Dabei helfen ihnen eine App, natürlich ein flexibler Stromtarif und ein Home-Automation-System. Das Interesse geht hier vor allem auf Lösungen, die sich später auch für den täglichen Betrieb eignen.

Serie: Smart Grids

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Teil 1 fängt dort an, wo derzeit der Schuh drückt: Der Umstieg auf erneuerbare Energien macht bei vielen dezentralen Erzeugern die Netzstabilität zu einem schwierigen Balanceakt. Die erste Aufmerksamkeit gilt darum (Puffer-)Speichern, Smart Metern – und eben flexiblen Netzen. Das Schüsselstichwort hierzu lautet „Sektorenkopplung“. Teil 2 berichtet aus Nordrhein-Westfalen, welche konkreten Lösungen für Smart Grids dort bereits im Einsatz sind. Teil 3 geht in den Süden und berichtet, wie Bayern bis 2050 seine Energie CO₂-neutral erzeugen will. Ein Extrabeitrag berichtet vom Neubau des 50Hertz-Rechenzentrums, außerdem gibt es einen Smart-Grid-Report aus Österreich. Weitere Regionalreports sind in Vorbereitung. (Bild: EMH metering)

Nicht weit entfernt, zwischen Donau und der Wiener Trabrennbahn Krieau, erzeugen 100 Bewohner in der Value-One-Anlage Viertel Zwei ihren Strom mit PV-Anlagen selbst. Den können sie entweder im eigenen Haushalt verbrauchen, als Überschuss in den eigens installierten Quartierspeicher geben oder über eine automatisierte Peer-to-Peer-Plattform verkaufen. Möglich wird das durch die Blockchain-Technologie, für die in diesem Fall das Wiener Start-up Riddle & Code zuständig ist.

In der Modellregion Salzburg finden sich über 30 Projekte, in denen an Teilaspekten des Smart Grids geforscht wird. Langfristig sollen die einzelnen Projekte zu einem Gesamtsystem zusammengeführt werden, das ebenso wie das Projekt im Wiener 22. Bezirk als Vorlage für andere Smart Grids dienen kann. Die Gemeinde Köstendorf hat in einem groß angelegten Feldversuch laut Dr. Berger „spannende Forschungsergebnisse“ geliefert. Jedes zweite Haus hat dort eine Fotovoltaikanlage und jeder dritte Haushalt ein E-Auto. „Diesem lokalen Niederspannungsnetz, das an einem regelbaren Ortsnetztransformator hing, hat man mit seinen vielen kleinen Erzeugern und vielen E-Autos so richtig Stress gemacht“, berichtet Dr. Berger. „Grundsätzlich ist es ja so: Bei Sonnenschein gibt es viel PV-Strom, also sollten möglichst viele E-Autos zu dieser Zeit aufgeladen werden. Was passiert aber, wenn das wirklich alle machen? Dann wird aus dem guten Vorsatz schnell der Worst Case, es kommt zu einem Engpass in der Erzeugung, und das System kommt erst recht ins Schwingen. Es geht also um die Erforschung solcher komplexer Systeme, wo alle Player mit ihren Aktionen ständig aufeinander wirken, und um die Frage, wie man diese regulieren kann, damit am Ende alles zur Zufriedenheit aller funktioniert, sprich: das Netz stabil bleibt.“ Das genau ist die schwierige Leistung von Smart Grids: die Lasten, Bedarfe und Einspeisungen zu regeln und zu puffern.

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Friedrich List ist Journalist und Buch­autor in Hamburg. Seit Anfang des Jahr­hunderts schreibt er über Themen aus Computer­welt und IT, aber auch aus Forschung, Fliegerei und Raum­fahrt, u.a. für Heise-Print- und Online-Publikationen. Für ihn ist SEO genauso interessant wie Alexander Gersts nächster Flug zur Inter­nationalen Raum­station. Außerdem erzählt er auch gerne Geschichten aus seiner Heimatstadt.

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