Customer Obsession: Warum Firmen die Leidenschaft für Kunden fehlt

Karriere bedeutet in der Regel, möglichst weit weg vom Kunden zu sein. Nie mehr diese Mühle! Was Manager um­treibt, ist nicht Customer Obses­sion, sondern Wunsch­denken, Selbst­über­schätzung und Realitäts­ferne. Dagegen gibt es nur ein Mittel: Die Chefs bräuchten öfter Kunden­kontakt, sagt Anne M. Schüller.

Für die Kunden leben – oder sterben

Von Anne M. Schüller, Anne M. Schüller Management Consulting

Während herkömmliche Manager vor allem an den Wettbewerb, ihre Quartalsziele und die Kosten denken, haben die Jungunternehmer längst verstanden, dass sich alles um die Kunden dreht. Eine „Obsession“ für Kundenbelange nennen sie das. Denn jeder Anbieter ist auf das Wohlwollen seiner Kunden angewiesen wie niemals zuvor.

„Mich interessiert nicht die Bohne, ob der Brief bei Ihnen von ein oder zwei Personen unterschrieben werden muss. Mich ärgert, dass das Ganze mal wieder mehr als eine Woche gedauert hat. Andere schaffen das in einem Tag.“ Solche Beispiele, die von hilflosem Kundenärger zeugen, gibt es tagtäglich. Im Vergleich zu den Episoden, die Tom König in seinen Spiegel-Online-Kolumnen so trefflich beschreibt, ist das noch ein harmloser Fall. Eingezwängt in ein Vorschriftenkorsett dürfen engagierte Mitarbeiter die Probleme ihrer Kunden nicht mal dann lösen, wenn sie es wollten. Das Web ist voll von solchen Klagen, und das schon seit Jahren. Wieso schauen denn die Manager da nicht endlich mal hin?

Die Kluft zwischen Selbstbild und Fremdbild

Blind und taub für die Belange der Kunden glauben die Oberen doch tatsächlich, schon ganz schön weit zu sein. Selbstbild und Fremdbild liegen da oft weit auseinander. So meinen einer Studie von Bain & Company zufolge 80 % aller Unternehmen, ein herausragendes Kundenerlebnis zu bieten, aber nur 8 % ihrer Kunden stimmen dem zu. Wunschdenken, Selbstüberschätzung und ein verstellter Blick auf die Realität finden sich in allen Management-Bereichen, so auch im Verhältnis zu den Mitarbeitern:

  • Einer Untersuchung der Rochus Mummert Consultants zufolge glaubten 63 % der befragten Unternehmenschefs, eine hohe moralische Integrität zu haben und dafür in der Belegschaft auch geschätzt zu werden. Bei den Mitarbeitern sahen dies aber nur 16 % so.
  • Eine Stepstone-Untersuchung brachte zutage, dass 94 % der befragten Personalverantwortlichen annehmen, dass die Angestellten ihre Firma als Arbeitgeber empfehlen. Aber nur 45 % taten dies tatsächlich.
  • Einer IKuF-Studie zufolge bewerteten 70 % der befragten Manager ihre Fähigkeit, angemessen und konstruktiv Feedback zu geben, als sehr gut oder gut. Nur 45 % der befragten Mitarbeiter sahen das genauso.
  • Viele Arbeitgeber halten ihre Angestellten für glücklicher als diese in Wirklichkeit sind. Auf einer Skala von null bis zehn schätzten sie deren Glücksstatus auf 7,2, während ihn die Mitarbeiter mit 5,1 angaben. Auch das fand Stepstone heraus.

Eine zentrale Erkenntnis aus der Glücksforschung ist außerdem die, dass Menschen weniger glücklich sind, wenn sie sich in Gegenwart ihres direkten Vorgesetzten befinden. Wer aber weniger glücklich ist, dessen Leistung ist eingeschränkt. Der kann nicht die optimale Performance erbringen. Man muss also drinnen im Unternehmen beginnen, damit es draußen beim Kunden klappt.

Auf Tuchfühlung mit dem Kunden von heute

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Selbst bei mittelgroßen Unter­nehmen kommen bei einer sorg­fältigen Analyse schnell mehr als ein­hundert potenzielle Touch­points zusammen. Die Zahl als solche ist schon ver­wirrend genug. Viel ent­scheidender ist aber die Frage, auf welche Touch­points sich das Unter­nehmen schließ­lich kon­zentrieren soll, welche sich neu kom­binieren lassen, welche ver­nachlässigt werden können, welche ge­strichen werden müssen und welche wo­möglich noch fehlen. Wie das geht? Das ist aus­führlich be­schrieben in „Touch­points. Auf Tuch­fühlung mit dem Kunden von heute. Management­strategien für unsere neue Business­welt“ (Mit einem Vorwort von Prof. Dr. Gunter Dueck. 5. aktualisierte Aufl. Offen­bach: Gabal 2014. 350 S., ISBN: 978-3-86936-330-1, 29,90 Euro, 47,90 CHF. – Ausge­zeichnet als Mittelstands­buch des Jahres und mit dem Deutschen Trainer­buchpreis 2012. Auch in unge­kürzter Hörbuch­fassung: 8 CDs, ISBN 978-3-86936-501-5, 49,90 Euro, 62,50 CHF).

Der Kunde an erster Stelle? Eher an letzter!

„Steht bei euch der Kunde denn wirklich an erster Stelle“, frage ich gern. Da nicken alle fleißig und brav. Wiewohl schon ein kleiner Schnelldurchlauf zeigt: Die Realität sieht völlig anders aus.

  • Bei Vertriebspräsentationen, da geht das eine halbe Stunde lang so: „Wir sind … Wir haben … Wir können … Wir wollen … Wir bieten …!“ Mit anderen Worten: „Ich erzähle jetzt erst mal, wie toll wir sind.“ Auf der allerletzten Seite dann endlich: der Logo-Friedhof mit den bestehenden Kundenbeziehungen. Aha, der Kunde kommt zum Schluss.
  • Die öffentlichen Bereiche produzierender Unternehmen? Ein reines Egoprogramm: Maschinenteile, Miniaturen von Fertigungsanlagen, Luftbildaufnahmen, Gründerporträts, Urkunden und Pokale. Ganz groß an der Wand: eine Weltkarte voller Fähnchen, Symbole für ein territoriales Eroberungsprogramm. Von Kunden keine Spur.
  • Der erste Navigationspunkt auf vielen Websites heißt: „Wir über uns.“ Hört euch an, was wir zu sagen haben, ist die Botschaft, und dann lasst uns in Ruh. Eine Kontaktmöglichkeit zu finden, ist oft wie die Eiersuche zu Ostern. Viele Firmen wollen offensichtlich gar nicht mit Kunden reden. Das kostet nämlich Geld!

„Ein zukunftsfähiges Unternehmen richtet sein Augenmerk und seine Energie statt nach innen, also auf Pläne, Politik, Verhandlung und interne Leistungsdemonstration, verstärkt nach außen – auf Markt, Wettbewerb und Kunden“, sagt der Managementberater Niels Pfläging, der dafür den Begriff Beta-Organisation nutzt.

Tja, die knappste Ressource eines Unternehmens ist nicht das Kapital, sondern es sind die Führungskräfte, die kundenfokussiert denken und handeln. Denn erst, wenn das passiert, machen die Mitarbeiter das Gleiche. Customer first! So sollte also der Schlachtruf lauten. Der Kunde gehört an die erste Stelle. Customer Obsession ist heutzutage ein Muss!

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Anne M. Schüller ist Managementdenker, Keynote-Speaker, mehrfach preisgekrönte Bestsellerautorin und Businesscoach. Die Diplom-Betriebswirtin gilt als führende Expertin für das Touchpoint Management und eine kundenfokussierte Unternehmensführung. Zu diesen Themen hält sie Impulsvorträge auf Veranstaltungen und Fachkongressen. 2015 wurde sie für ihr Lebenswerk in die Hall of Fame der German Speakers Association aufgenommen. Vom Business-Netzwerk LinkedIn wurde sie zur Top-Voice 2017/2018 und vom Business-Netzwerk Xing zum Xing-Spitzenwriter 2018 gekürt. Ihr Touchpoint Institut bildet zertifizierte Touchpoint Manager sowie zertifizierte Orbit-Organisationsentwickler aus.


Anne M. Schüller Marketing Consulting, Harthauser Str. 54, 81545 München, 089-6423208, info@anneschueller.de, www.anneschueller.de, www.touchpoint-management.de

Die Chefs bräuchten öfter Kundenkontakt

Also: Woher rühren die Berührungsängste, die viele Manager haben, wenn es um fundierte Gespräche mit Kunden geht? Ich kenne Führungskräfte, die heilfroh sind, seit ihrer Beförderung „endlich den täglichen Kleinkrieg mit diesen Nullcheckern los zu sein.“ Sie betrachten es als Rückschritt in ihrer Karriere, wieder mit Kunden konfrontiert zu werden!

Ein Großteil der Personaler war noch nie mit Kunden in Kontakt. Ich kenne aber auch Marketing-Leiter, die lieber an gekünstelten Zielgruppendefinitionen basteln als den Leuten mal aufs Maul zu schauen. Ich kenne Vertriebsleiter, die man eigentlich nur als Verwalter bezeichnen kann. Sie haben zu keiner Zeit selbst verkauft.

Um ihre Callcenter machen die Chefs einen weiten Bogen, aus lauter Angst, mal ans Telefon gerufen zu werden. Und dann wiederum gibt es die, die täglich im Kundenservice vorbeischauen und auch selbst Gespräche führen. So kann man den Mitarbeitern ein kundenorientiertes Vorbild sein. Vor allem aber gewinnt man jede Menge Lernmaterial.

Kunden, die meckern, sind Leistungstreiber

Von Kunden können Manager eine Menge lernen. Doch vom Schreibtisch aus fällt das sehr schwer. Tauchen Sie also ein ins Konsumentengetümmel, entfliehen Sie dem internen Abschirmprogramm, den Limos mit getönten Scheiben, dem Ghetto der Senator Lounge. Betreiben Sie eigene Feldforschung!

Ein Kunde, der Ihnen mal so richtig die Meinung sagt, kann mehr bewirken als jedes Repräsentativergebnis aus der Sterilität eines Marktforschungslabors. Repräsentativität ist sowieso Blödsinn, weil man nur nichts sagende Durchschnittswerte erhält.

Konzentrieren wir uns lieber auf die Ausreißer. Gerade von denen erfährt man die nützlichsten Dinge: was bei Ihnen absolut klasse läuft und wo es lichterloh brennt. So können gerade „schwierige“ Kunden als Leistungstreiber nach innen dienen. Denn da, wo die größten Kundenprobleme sind, schlummert die höchste Rendite.

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