Skisport digital: Wer mit Custom Carvern davonfährt

Skifahren ist ein Individualsport – Skier sind industriell gefertigte Massenprodukte. Diesen Widerspruch aufzulösen, schicken sich gleich mehrere österreichische Hersteller an, vom Platzhirsch Atomic bis zu Start-ups wie Original+. Industrie-4.0-Technologien spielen dabei eine entscheidende Rolle.

Maßgefertigte Lieblingsbrettl

Von Dirk Bongardt

Eispiste oder Tiefschneefeld, Leichtgewicht oder Athlet, rasanter oder entspannter Fahrstil – wie wohl sich ein Skifahrer auf seinen Brettern fühlt, hängt von vielen Faktoren ab. Für manchen ist es eine lange Reise, bis er das Paar Skier gefunden hat, das seinen Bedürfnissen voll und ganz gerecht wird. Skihersteller, die ihren Kunden diese Reise verkürzen, haben einen klaren Wettbewerbsvorteil. Und tatsächlich arbeiten vom Global Player bis zum kleinen Start-up viele Hersteller genau daran.

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Schwarz auf Weiß
Dieser Beitrag erschien zuerst in unserer Heise-Beilagenreihe „IT-Unternehmen in Österreich stellen sich vor“. Einen Überblick mit freien Download-Links zu sämtlichen Einzelheften bekommen Sie online im Pressezentrum des MittelstandsWiki.

Als Weltmarktführer gilt Atomic. Gut eine Million Paar Skier produzieren die Pongauer pro Jahr, den größten Teil davon machen Alpinskier im Premiumbereich aus. Atomic hat den individuellen Bedürfnissen der Fahrer über viele Jahre vor allem über sein extrem breites Sortiment Rechnung getragen: Alle Längen und Varianten eingerechnet, stellt Atomic rund 1100 unterschiedliche Modelle her. Zweifellos findet sich darunter für praktisch jeden Skifahrertyp ein geeignetes Produkt. Doch seit einiger Zeit bietet Atomic seinen Endkunden noch mehr Möglichkeiten der Individualisierung – ohne dabei deren Qual der Wahl zu vergrößern.

Am anderen Ende des Herstellerspektrums befinden sich Start-ups wie Original+. Dessen Gründer und Inhaber Siegfried Rumpfhuber hat das gesamte Geschäftsmodell rund um eine KI-gestützte Individualisierung herum aufgebaut. Viele Österreicher kennen den Inhaber aus der beliebten Fernsehsendung „2 Minuten, 2 Millionen“, wo hoffnungsvolle Gründer um die Gunst von Investoren werben, die – wenn es gut läuft – mit Geld und Know-how in die Start-ups einsteigen. Für Siegfried Rumpfhuber lief es gut: Die Investorenfirma 8eyes stieg bei Original+ ein, bei „2M2M“ vertreten durch den einstigen Runtastic-Gründer Florian Gschwandtner. Der wiederum ist gleichermaßen Experte für digitale Geschäftsmodelle und Sport-Enthusiast – eine Kombination, wie sie sich Rumpfhuber nicht hätte besser wünschen können.

Wege zur Losgröße 1

Bei schrumpfenden Losgrößen kosteneffizient zu produzieren, ist eine Herausforderung, der sich Atomic schon länger gegenübersieht. Im Durchschnitt lag die Losgröße der Skiproduktion im Jahr 2010 bei etwa 400 Paar Ski, im Jahr 2012 zwischen 250 und 200 Paar Ski, im Jahr 2014 bei ca. 100 Paar Ski und gegenwärtig zwischen 75 und 40 Paar Ski pro Los. Das bedeutet, dass die Mitarbeiter von Atomic die Produktionsanlagen heute rund zehnmal häufiger umrüsten müssen also noch vor elf Jahren. Die benötigten personellen und zeitlichen Ressourcen sind exorbitant gewachsen. Dass Atomic seine Skier – anders als die meisten Wettbewerber – im Hochlohnland Österreich produziert, verschärft den Kostendruck zusätzlich.

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Der Redster von Atomic ist nicht notwendig rot. Im Online-Customizing lassen sich die Revoshock-Modelle der Saison 2021/22 nach Wunsch mit Mustern, Farben, Texten und sogar eigenen Fotos personalisieren. (Bild: Atomic)

Atomics Rezept dagegen heißt Automatisierung. Die Herstellung von Skiern lässt sich vereinfacht auf zwei Vorgänge reduzieren: das Pressen und das Schleifen. Das größte Automatisierungspotenzial bietet das Schleifen. Bei Atomic ist deshalb ein Projekt mit dem Namen „Schleifen 4.0“ in Gang. Während der Produktion durchläuft ein Ski bis zu acht unterschiedliche Schleifgeräte. Ein smartes Prüfsystem misst den Qualitätsstatus der Skier in Echtzeit, um etwaige zusätzliche Schleifgänge einzusparen, sobald die optimale Qualität erreicht ist.

Ein weiterer Aspekt der Automatisierung trägt den bezeichnenden Namen „Smarte Druckluft“. Dazu erheben Sensoren während der Produktion Daten wie Stromverbrauch, Luftfeuchtigkeit, Temperatur und Druckluft. Eine Plattform führt diese Daten zusammen und verknüpft sie. Insbesondere ein konstanter Luftdruck ist entscheidend für ein optimales Schleifergebnis. Fällt der Druck während der Produktion, fällt die Qualität der hergestellten Skier, bis hin zur Ausschussware. Früher war der Prozess davon abhängig, ob ein Mitarbeiter einen eventuellen Druckverlust rechtzeitig bemerkte. Um die Produktion von Ausschussware auf ein Minimum zu reduzieren, installierte Atomic ein autonomes System zur Überwachung und Gewährleistung des benötigten Drucks. Damit steht und fällt eine effiziente Produktion nicht mehr mit der Tagesform des verantwortlichen Mitarbeiters.

Design nach Kundenwunsch

Endgültig in Losgröße 1 fertigt Atomic die Skier, die Kunden im Custom Studio des unternehmenseigenen Online-Shops bestellen. Hier wählt der Kunde zwar zunächst aus der bekannten Modellpalette des Herstellers aus. Zur Wahl stehen Pisten-, Freeride-, Touring- und spezielle Kinderskier. Aber von da aus verzweigt die Web-Anwendung in eine Art Designstudio, in dem der Kunde aus einer Reihe vorkonfigurierter Designs wählen oder sich für ein komplett individuelles Design entscheiden kann. Dabei steht ihm eine umfangreiche Palette an Farben und Designelementen zur Wahl, die er mit selbst hochgeladenen Fotos, Grafiken und Beschriftungen nahezu beliebig variieren kann. Drei bis vier Wochen später können sich die Kunden die komplett individualisierten Bretter dann schon unter die Skischuhe schnallen, Atomic liefert versandkostenfrei direkt an den Endkunden.

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Schick, aber nicht ganz intuitiv: der Online­Konfigurator von Atomic. Für eigene Fotos braucht es außerdem enorme Auflösungen. (Bild: Atomic)

Diese Art des Angebots – und überhaupt schon der Online-Shop, über den Endverbraucher ohne Umweg über Sporthändler bei Atomic einkaufen können – stellte eine Zäsur für Atomics zuvor über viele Jahre gepflegte Geschäftspolitik dar. Der Weltmarktführer setzt nach wie vor auf den B2B-Handel, aber eben nicht mehr ausschließlich. Die mit der Automatisierung möglich gewordenen viel kleineren Losgrößen erlauben heute eine solche individualisierte Produktion. Gleichzeitig steht heute auch eine Logistik zur Verfügung, mit der es möglich ist, einzelne Paar Skier quer durch Europa direkt zum Endabnehmer zu schicken.

Atomic kontert mit diesem Konzept auch gleich eine weitere Herausforderung der Gegenwart: den Trend zur Sharing Economy. Immer mehr Skifahrer kaufen sich keine Ausrüstung, sondern leihen sie bei Bedarf. Einen ganz und gar nach eigenen Vorstellungen gestalteten Ski gibt es aber nirgends zu leihen. Ein vom Fahrer selbst designter Ski wird damit zum Status- und zum Symbol der Selbstverwirklichung. Zu Preisen, die den Vergleich mit denen guter Standardmodelle nicht scheuen müssen – derzeit maximal 700 Euro.

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Ohne Trepperl, aber Gesamtsieger des ISPO Brandnew 2019: Auf der internationalen Sportmesse in München wurde Original+ zum Overall Winner der Start-up-Plattform gekürt. Massenmaßanfertigung, also rentable und flexible Fertigungsprozesse für Losgröße 1 halten damit auch im Sportgeschäft Einzug. (Bild: Messe München GmbH)

Jedes Paar ein Original

Beim Start-up Original+ aus Salzburg ist Individualisierung quasi in der DNA des Geschäftsmodells angelegt. Siegfried Rumpfhuber produziert im Jahr nur gut ein Tausendstel der Menge an Skiern, die Atomic auf den Markt bringt, aber jeder davon ist ein maßgefertigtes Einzelstück. Allerdings ebenfalls zu massenkompatiblen Preisen zwischen 600 und 800 Euro pro Paar.

Dabei geht Rumpfhuber mit seiner Individualisierung ein ganzes Stück weiter als Atomic, berücksichtigt Größe, Gewicht, bevorzugte Pisten und Fahrstile, die Erfahrung und etliche weitere Parameter, bevor ein Paar Skier in die Produktion gehen. Er nutzt dazu eine vom Salzburger Start-up Fact AI entwickelte künstliche Intelligenz. Die stellt dem Käufer in spe insgesamt 21 Fragen. Aus den Antworten leitet das System dann den individuell perfekten Ski ab, was Länge und Breite, Steifigkeit und Kantwinkel betrifft.

Diese Individualisierung soll auf der Piste den entscheidenden Unterschied machen. In der Fertigung ist es die Digitalisierung, die den Unterschied machen soll: „Unser Investor 8eyes hat uns hier die Augen geöffnet. Denn trotz unseres digitalen Geschäftsmodells befinden wir uns erst bei einem Digitalisierungsgrad von 20 %. Das betrifft zum Beispiel unsere Produktionsprozesse. Hier läuft zwar schon vieles digital ab, sie sind aber noch nicht ausreichend verkettet. Auch unsere Kommunikationsflüsse oder die digitale Bauteilverwaltung können wir noch besser digitalisieren“, sagt Rumpfhuber in einem Interview mit Startup Salzburg.

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Von Fahrkönnen, Gewicht und Gelände über Tempo, Schneevorlieben und Schwungtechnik bis hin zu Kantwinkeln und Infrarot-Wachsfinish – Original+ fragt Konfigurationskunden eingehend ab, bevor das Start-up den Ski in Längsreflex, Torsion, Dämpfung etc. individuell berechnet. (Bild: TYPS GmbH – Original+)

Einem Skifahrer seinen ganz persönlichen Ski auf den Leib zu schneidern, das ist keine neue Erfindung. Im Profisport ist das gang und gäbe, aber eben zu entsprechenden Preisen. „Sauber gerechnet kostet ein solches Paar 8000 bis 10.000 Euro“, erklärt Rumpfhuber in einem Gespräch mit brand eins. Ursprünglich hatte er angedacht, einen persönlichen Entwickler mit der Individualisierung zu betrauen, aber auch unter Ausschöpfung aller Optimierungsmöglichkeiten hätte das Paar dann noch rund 2000 Euro gekostet. „Dafür gibt es praktisch keinen Markt“, resümiert der Skiexperte. Für einen mithilfe künstlicher Intelligenz individualisierten Ski aber sehr wohl.

Eine der großen Herausforderungen des Salzburger Unternehmens ist bislang noch die Durchlaufzeit. 15 bis 25 Tage dauert die Fertigung, bis ein Paar fahrbereit zum Kunden gehen kann. Rumpfhuber will perspektivisch eine Fertigungsdauer von 15 Werktagen deutlich unterschreiten. Dann wäre Original+ sogar schneller auf der Piste als der Platzhirsch Atomic.

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Dirk Bongardt hat vor Beginn seiner journalistischen Laufbahn zehn Jahre Erfahrung in verschiedenen Funktionen in Vertriebsabteilungen industrieller und mittelständischer Unternehmen gesammelt. Seit 2000 arbeitet er als freier Autor. Sein thematischer Schwerpunkt liegt auf praxisnahen Informationen rund um Gegenwarts- und Zukunftstechnologien, vorwiegend in den Bereichen Mobile und IT.


Dirk Bongardt, Tel.: 05262-6400216, mail@dirk-bongardt.de, netknowhow.de

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