Digitalisierung in Österreich: Wie sich österreichische Firmen neu erfinden

Die Familien­unternehmen Öster­reichs sind zu­versich­tlich, aber sie zögern, wenn es um Digi­tali­sierung geht. Ein Grund dafür könnte sein, dass der Service­gedanke ohnehin sehr viel stärker gelebt wird als etwa in Deutsch­land. Digital­technologien könnten diesen Heim­vorteil freilich nach­haltig stärken.

Digitale Kundendienste

Von Kai Tubbesing

Österreichs Familienunternehmen schauen optimistisch in die Zukunft. Laut der European Private Business Survey 2019 der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft und Unternehmensberatung PricewaterhouseCoopers (PwC) erwartet eine Mehrheit von 77 % wirtschaftliches Wachstum. Damit übertrifft die Erwartung jene der europäischen Mitbewerber deutlich: Nur 57 % der familiengeführten Unternehmen aus der EU, ergänzt um die Nichtmitgliedsstaaten Norwegen, Schweiz und Türkei, teilen diese Zuversicht. Allerdings könnte der sich weltweit eintrübende Konjunkturhimmel manchen Akteur schneller unter Zugzwang setzen, als ihm lieb ist, denn bei Digitalisierungsprojekten hinkt die österreichische Wirtschaft hinterher.

Technologieskepsis, außer bei Robotern

Begründet liegt der dieser Rückstand im Tunnelblick vieler Familienunternehmen. Zwar geben 71 % der Befragten an, die digitale Wende zumindest durch eine Aufrüstung ihrer IT-Infrastruktur in Angriff genommen zu haben, doch nur 39 % verfolgen eine umfassende, übergeordnete Digitalstrategie. Hinzu kommt, dass sich viele Firmen von disruptiven Technologien nur wenig erwarten; so bewerten beispielsweise nur 6 % der Unternehmen künstliche Intelligenz als aussichtsreiche Chance. Zum Vergleich: Europaweit erhoffen sich davon 23 % positive Auswirkungen auf den eigenen Geschäftsbetrieb.

Ein ähnliches Erwartungsgefälle konstatiert die PwC-Studie im Bereich weiterer Schlüsseltechnologien wie 3D-Druck, Augmented und Virtual Reality, Blockchain, Drohnen und Internet der Dinge. Ein deutlicher Ausreißer ist die Robotik, sie gilt geradezu als Hoffnungsträger, denn ihr messen 37 % eine große Bedeutung zu – und somit sogar mehr als im europäischen Durchschnitt (33 %). Generell zählen die Angst vor Cyberrisiken, die hohen Investitionskosten und ein grundlegender Mangel an Expertenwissen im eigenen Unternehmen zu den maßgeblichen Hemmnissen der Digitalisierung. Aufseiten der Lösungsanbieter ist man daher bemüht, die Einstiegshürden zu senken und digitale Infrastrukturen möglichst transparent zu machen. Rittal etwa entwirft zu neuen Rechenzentren mittlerweile eine genaue 3D-Modelle inklusive Wärmebilder, sodass man das geplante Datacenter vor Baubeginn mit VR-Brille virtuell begehen kann. Der Systemanbieter hat sich für Österreich 2018 deshalb komplett neu aufgestellt. „Dadurch haben wir die Kundenbetreuung auf ein sehr hohes Niveau stellen können“, erklärt Mag. Andreas Hajek, Verkaufsleiter IT-Infrastruktur bei Rittal Österreich.

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Auf virtueller Erkundungstour im neuen Rechenzentrum: Ein begehbarer digitaler Zwilling macht diesen Teil der Digitalisierung transparent. (Bild: Rittal GmbH)

PwC-Experte Rudolf Krickl fordert insgesamt mehr Mut, damit Österreich angesichts der digitalen Realität nicht den Anschluss verliert: „Heimische Familienunternehmen blicken verhalten optimistisch in die nahe Zukunft. Auch wenn die Einschätzung positiver ist als im EU-Durchschnitt, so ist konsequentes Handeln gefragter denn je, denn Unternehmen in ganz Europa müssen sich auf die neue Normalität einstellen.“ Gefragt sind zuerst die Führungskräfte. Es liegt an ihnen, ganzheitliche, digitale Strategien zu entwickeln, die auch wirtschaftlich-soziale Aspekte mit einbeziehen, statt nur die technische Komponente zu fokussieren. Das erfordert Digitalisierungsexperten mit Augenmaß, sowohl auf der Ebene der Unternehmensführung als auch unter den Beschäftigten, Offenheit gegenüber neuen Finanzierungsmodellen, eine dedizierte Organisationseinheit zur Abwehr von Cyberbedrohungen und nicht zuletzt den Aufbau einer digitalen Kultur quer durch alle Ebenen. Wie das klappen kann, zeigen die folgenden Beispiele.

Kunststoffrecycling in der Smart Factory

Die Erema Group ist auf Kunststoffrecycling spezialisiert. Mit weltweit rund 500 Mitarbeitern an verschiedenen Standorten bietet das Familienunternehmen unter anderem digitalisierte, Industrie-4.0-taugliche Lösungen an, welche die Kreislaufwirtschaft in der Kunststoffherstellung bereits heute Realität werden lassen: Rezyklate sind die Grundvoraussetzung einer nachhaltigen Produktion. Diese Nachhaltigkeit prägt bereits seit 1983 das Programm des Branchenpioniers aus Österreich, heute zählt Erema zu den Weltmarktführern: Global kommen mehr als 6000 Systeme des Herstellers aus Ansfelden bei Linz zum Einsatz und verarbeiten jährlich Plastikabfall zu 14,5 Millionen t hochwertigem Kunststoffgranulat.

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Auf der Kunststoffmesse K 2019 in Düsseldorf führte Erema im Circonomic Centre live vor, wie geschlossene Kunststoffkreisläufe funktionieren: nachhaltig und digital. In Aktion war eine Intarema TVEplus samt QualityOn-Paket und Anbindung an das MES re360. (Bild: Erema)

Zu den jüngsten Eigenentwicklungen zählt die Kundenplattform BluPort, die verschiedene digitale Assistenzsysteme von Erema bündelt und unter anderem eine Überwachung der Recycling-Maschinen, anschauliche Wartungsvideos und eine direkte Schnittstelle zur Bestellung von Ersatzteilen bietet. „Die Vernetzung virtueller Datenebenen mit realen Prozessabläufen wird künftig neue Lösungen für den Anlagenbetrieb und neue smarte Serviceangebote hervorbringen. Mit Fokus auf Datensicherheit und Kundennutzen schaffen wir mit BluPort ein pulsierendes Zentrum für neue Anwendungen, die es unseren Kunden ermöglichen, die vielfältigen Potenziale zu nutzen, welche die Digitalisierung schon bietet und in Zukunft noch bieten wird“, zeigt sich Manfred Hackl, CEO der Erema Group, überzeugt. Das erweiterte App-Angebot umfasst beispielsweise verschiedene QualityOn-Pakete, welche die Qualität der Rezyklate im laufenden Verarbeitungsprozess anhand von Farbe, Zusammensetzung des Ausgangsmaterials, IV-Wert und MVR (Melt Volume Rate) überwachen.

Die jüngste Erweiterung QualityOn:Polyscan verwendet laserbasierte Raman-Spektroskopie und misst die Polymer- und Füllstoffzusammensetzung in Echtzeit an der PCU (Preconditioning Unit) des Extruders. Verlassen die Messwerte einen zuvor spezifizierten Toleranzbereich, gibt das System eine automatische Warnung aus. Die Pakete lassen sich ebenfalls mit Eremas Smart Factory re360 verbinden, einem übergeordneten MES (Manufacturing Execution System), das Produktions- und Maschinendaten des kompletten Anlagenparks eines Kunden erfasst. Erema ist also auf dem besten Weg zu einem ausgebauten digitalen Ökosystem digitaler Produkte und Dienstleistungen und zeigt anschaulich, wie eine übergreifend gedachte Digitalisierungsstrategie aussehen kann.

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Schwarz auf Weiß
Dieser Beitrag erschien zuerst in unserer Heise-Beilagenreihe „IT-Unternehmen aus Österreich stellen sich vor“. Einen Überblick mit freien Download-Links zu sämtlichen Einzelheften bekommen Sie online im Pressezentrum des MittelstandsWiki.

Fernwartung als Webservice

Auch der Klimaspezialist Radel & Hahn aus Mattersburg nicht weit von der ungarischen Grenze verknüpft digital gesteuerte Produkte mit digitalen Services. Die Unternehmensgruppe ist seit ihrer Gründung 1972 in Familienhand, beschäftigt weltweit rund 140 Mitarbeiter und unterhält Produktionsstandorte in Rumänien und Ungarn.

Zum Angebot gehört unter anderem eine skalierbare Wartungs-App. Sie überwacht nicht nur kleine, privat genutzte Entfeuchtungsanlagen, sondern auch haustechnische Verbundanlagen, gewerblich genutzte Lüftungen sowie andere, große und weitaus komplexere Regelungssysteme im industriellen Maßstab. Die App visualisiert die Sensordaten auf Smartphone oder Tablet und bietet grundlegende Funktionen zur vorausschauenden Wartung: Ein Webservice zur Fernüberwachung ermöglicht die Remote-Kontrolle der fortlaufend übermittelten Betriebsparameter durch den Hersteller. Kommt es zu Auffälligkeiten oder Störungen, können die Regelungstechniker von Radel & Hahn auch abseits der vorgesehenen Wartungsintervalle einschreiten, um einem möglichen Ausfall einer Anlage frühzeitig zu begegnen.

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Anteil der 2443 befragten Unternehmen, die der digitalen Transformation für ihre Überlebensfähigkeit große Bedeutung beimessen: In Großbritannien und den Niederlanden ist der digitale Wandel für 85 % wichtig, Deutschland liegt mit 59 % unter EU-Durchschnitt (65 %), Österreich ist mit 49 % die DACH-Unterkante. (Bild: PwC European Private Business Survey 2019)

Glas, Maschinen und Software

Aus Amstetten-Hausmening in Niederösterreich stammt der 1961 gegründete und erst kürzlich als bestes Familienunternehmen des Bundeslandes ausgezeichnete Maschinenbauer LiSEC, der auf Glasbearbeitung spezialisiert ist. Rund 1300 Beschäftigte arbeiten an 20 weltweiten Standorten daran, der Glasindustrie auf die digitalen Sprünge zu helfen: Die Integration von selbst entwickelter Software zur Produktionssteuerung gehört neben der Herstellung von Bearbeitungsmaschinen zu den wichtigsten Standbeinen des Unternehmens. So macht die hauseigene Lösung Assetcheck die wesentlichen Daten zum Maschinenzustand in Echtzeit verfügbar und sammelt die Daten aus dem Produktionsprozess. Weitere Softwaremodule warnen vor einer zu hohen Maschinenauslastung und Engpässen oder optimieren den Glaszuschnitt – das spart Material und erhört die Produktionseffizienz.

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Die LiSEC-Lösung assetcheck zeigt die aktuellen Maschinenzustände auf einen Blick. So ist sofort erkennbar, ob sich die Anlage im Automatikbetrieb befindet oder eine Störung vorliegt. (Bild: LISEC Austria GmbH)

LiSEC geht dabei komplett pragmatisch vor: Lässt sich eine Störung nicht per Remote-Service durch einen Techniker beheben, rückt ein Mitarbeiter aus, um die Anlage bereits vor einem möglichen Produktionsstopp in Augenschein zu nehmen und das Problem beim Kunden vor Ort zu beseitigen. Mit LiSEC.eye bekommen die Kunden bei Stillständen als Soforthilfe sogar eine interaktive Videokonferenzschaltung zum LiSEC-Servicetechniker. Diese Art der Herangehensweise ist letztlich dem besonderen Status von LiSEC geschuldet: gleichzeitig Glashersteller und Maschinenbauer für die glasbearbeitende Industrie. Das Unternehmen lässt die praktische Erfahrung aus der Fertigung in die Gestaltung seiner Maschinen und Softwarelösungen einfließen und kann neue Technologien vorab im laufenden Betrieb erproben, um der Branche im Anschluss maßgeschneiderte, unter Realbedingungen getestete Lösungen anzubieten.

Thema: Digitalisierung
Eine Einführung macht mit Chancen und Risiken vertraut; dazu gibt es gleich die ersten Beispiele: Otto in Hamburg, Lufthansa Technik und Viessmann in Berlin. Danach geht der Blick Richtung Nordrhein-Westfalen zu Henkel und Grohe, aber auch zu Hidden Champions wie der Harting-Gruppe. In Bayern sind Jungheinrich, die Wenzel Group, Lamilux und natürlich KUKA gute Beispiele, in Baden-Württemberg Firmen wie Festo und Trumpf. Der Blick über den Tellerrand nach Österreich zeigt, dass dort Namen wie Erema, Radel & Hahn und LiSEC, aber auch Red Bull digital erfolgreich unterwegs sind. Auf die Chancen der Digitalisierung geht dann Matthias Meyer genauer ein, der Beispiele aus den Bereichen Big Data, Augmented und Virtual Reality sowie Open Innovation nennt. Eher in Richtung Disruption geht das Digitalisierungsinterview, das wir mit Andreas Franken geführt haben; mit ihm haben wir außerdem über die Folgen für den Arbeitsmarkt gesprochen. Weitere Gastbeiträge behandeln das Thema aus der Perspektive von Marketing und Vertrieb, Kundendienst, Logistik, Baubranche und Gastronomie sowie Kommunikationstechnologie. Nicht zuletzt steht auch die Digitalisierung der Energiewende an.

E-Sports fürs Image

Der weltweite Mangel an Digitalisierungsexperten trifft auch die österreichischen Familienunternehmen. Doch wo viele offene Stellen einer geringen Anzahl an Bewerben gegenüberstehen, kann geschicktes Employer Branding helfen, die Attraktivität des Unternehmens zu steigern. Die Red Bull GmbH aus Fuschl am See, der bekannte Hersteller des weltweit meistverkauften gleichnamigen Energy Drinks, verfolgt eine betont Lifestyle-orientierte Marketing-Strategie. So sponsort das Unternehmen nicht nur über 600 Extremsportler, sondern besitzt auch eigene Fußball- und Eishockeymannschaften sowie ein Formel-1-Team. Durch Projekte im Bereich von Musik und Tanz sowie ein wachsendes Engagement in der Gaming-Szene ist das Brause-Imperium von Dietrich Mateschitz insbesondere im Alltag eines jungen Zielpublikums dauerhaft präsent.

Im E-Sport-Bereich gehört Red Bull seit 2008 zu den Pionieren und veranstaltet nicht nur weltweit beachtete Turniere zu beliebten Spieletiteln wie etwa League of Legends, Hearthstone oder Dota 2, sondern verleiht auch als Sponsor vielen professionellen Spielern Flügel. Mit einem eigenen Lifestyle-Magazin, Blog und YouTube-Kanal sowie der regelmäßigen Präsenz auf Gaming-Veranstaltungen wie der deutschen Gamescom schafft es das Unternehmen, sich geschickt als Bestandteil einer ganz eigenen Digitalkultur zu inszenieren, die insbesondere die Lebenswelt junger Menschen bestimmt: In Gegenwart von professionellen Spielern, bekannten Influencern und reichweitenstarken Streamern präsentiert sich Red Bull als moderner, attraktiver Arbeitgeber und fester Bestandteil der Gaming-Szene.

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Event ist Trumpf: Red Bull hat als einer der Ersten in Österreich das Marketing-Potenzial von E-Sports erkannt. (Bild: Red Bull Deutschland GmbH)

Dass der E-Sport-Bereich als Employer-Branding-Strategie zieht, zeigt auch das Marketing anderer, internationaler Konzerne. So zog sich beispielsweise auch McDonald’s zuletzt zugunsten von Lifestyle-Sportarten und eines verstärkten Sponsorings in der professionellen Spielerszene aus seinem Engagement beim Deutschen Fußball-Bund und als Partner des Internationalen Olympischen Komitees zurück. In Werbeclips präsentiert die Fast-Food-Kette die Arbeit in den eigenen Restaurants zudem im Gaming-nahen Stil.

Konsequent digital

Die digitalen Vorzeigefamilienunternehmen Österreichs machen vor, wie der digitale Wandel zum Erfolg wird: mit konsequenten, wenngleich auf anderen Wegen fortgeführten Services. Solche Vorbilder sind auch notwendig – denn zumindest bislang wird der Stand der Digitalisierung den überdurchschnittlich guten Erwartungen an die wirtschaftliche Entwicklung oft noch nicht gerecht. Zu viele Unternehmen verkennen den Nutzen digitaler Schlüsseltechnologien und drohen somit, den Anschluss an die internationale Konkurrenz zu verlieren. Dabei liegt der Nutzen nicht allein in einer effizienteren Produktion und einer gesteigerten Wettbewerbsfähigkeit. Erema und Radel & Hahn ist es gelungen, ihr Geschäftsmodell so umzuformulieren, dass aus Produktverkäufern digitale Dienstleister geworden sind. Auf diese Weise generieren sie zusätzlichen Umsatz in neuen Geschäftsfeldern abseits des reinen Anlagenverkaufs.

Selbst die digitalen Austria-Champions trifft jedoch das Problem des Fachkräftemangels. Einen möglichen Ausweg aus dem Dilemma weist der Getränkehersteller Red Bull. Das Unternehmen inszeniert sich geschickt als Bestandteil einer jungen, digitalaffinen Kultur und liefert so eine mögliche Blaupause für Unternehmen, die dem wichtigen Thema Employer Branding bislang nicht genug Gewicht beigemessen haben – denn ohne geeignetes Personal verläuft auch die beste Digitalisierungsstrategie im analogen Sande.

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Kai Tubbesing arbeitet als freier Fach­journalist, Texter für Unter­nehmen und Agenturen sowie Über­setzer im Herzen des Ruhr­gebiets. Sein Kom­petenz­portfolio um­fasst neben klassischen IT-Themen wie Netz­werk­technologien, Security und PC-Hard­ware auch den Mobil­geräte- und Audio­bereich. Bis 2017 war er als leitender Re­dakteur und stell­vertretender Chef­redakteur in der deutschen Redak­tion von Tom’s Hard­ware tätig.

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