Smart Pott: Wie das Ruhrgebiet die Digitalisierung anpackt

Fördertürme, Schlote und Schlacke: Wer solche Bilder mit dem Ruhr­gebiet ver­bindet, war schon lange nicht mehr hier. Die Wirt­schaft sieht heute anders aus. Aus der Not hat der Pott schon eine Tugend ge­macht, als die digi­tale Trans­for­ma­tion noch „Struk­tur­wandel“ hieß. Hier hat sie früher be­gon­nen als anderswo.

Sprung aus der Grube

Von Dirk Bongardt

Das „Revier“ nennen die Einheimischen den riesigen Ballungsraum entlang der Ruhr liebevoll, den „Pott“ oder, noch häufiger, den „Kohlenpott“. Doch von Kohlenpott kann längst keine Rede mehr sein: Von den rund 5 Millionen Menschen, die hier auf einer Fläche von knapp 4500 km² leben, arbeiteten zuletzt noch 4000 im Steinkohlebergbau. Präziser: Im Bergwerk Prosper-Haniel in Bottrop. Und dort arbeiteten sie auch nur noch bis Ende des Jahres 2018, dann war auch in Prosper-Haniel „Schicht im Schacht“.

70 Jahre Wandel

Tatsächlich war es die Kohle, die das Ruhrgebiet erst zu dem größten Ballungsraum Deutschlands – und dem fünftgrößten in Europa – gemacht hat. Mitte der 1950er Jahre arbeitete im Pott fast eine halbe Million Menschen in der Kohleförderung, eine weitere halbe Million in der Stahlindustrie. Kohle und Stahl des Ruhrgebiets machten das deutsche Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit überhaupt erst möglich.

Aber schon gegen Ende der 50er Jahre schlossen die ersten Zechen – verdrängt von Kohleförderern aus dem Ausland, die den schwarzen Brennstoff zu niedrigeren Preisen anbieten konnten. Die erste Kohlekrise war da, und sie signalisierte, dass die Art wie und vor allem wovon die Menschen hier lebten, sich über kurz oder lang drastisch verändern würde – der Begriff „Strukturwandel“ prägt seither die Diskussion über die Zukunft des Reviers. Abgeschlossen ist dieser Prozess auch 70 Jahre später wohl noch lange nicht – zumal die Region immer wieder Tiefschläge einstecken musste. 2008 verlegte Handyhersteller Nokia seine Produktion vom Standort Bochum nach Rumänien, 2300 Mitarbeiter verloren ihre Jobs, schätzungsweise noch einmal so viele Arbeitsplätze gingen in Zuliefer- und Logistikunternehmen verloren, die vom Nokia-Standort abhängig waren. Ende 2014 folgte der nächste Tiefschlag: Autobauer Opel machte seinen Produktionsstandort in Bochum dicht. 3000 Betriebsangehörige waren davon direkt betroffen, wie viele Arbeitskräfte bei davon abhängigen Betrieben verloren gingen, darüber gehen die Schätzungen weit auseinander.

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Schwarz auf Weiß
Dieser Beitrag erschien zuerst in unserer Magazin­reihe „IT-Unternehmen aus der Region stellen sich vor“. Einen Über­blick mit freien Down­load-Links zu sämt­lichen Einzel­heften bekommen Sie online im Presse­zentrum des MittelstandsWiki.

Wie sehr sich das Bild inzwischen gewandelt hat, verrät ein Blick in die Regionalstatistik, wie sie der Regionalverband Ruhr zur Verfügung stellt. So sind von den insgesamt 1,7 Millionen Arbeitnehmern im Ruhrgebiet heute 1,3 Millionen im Dienstleistungssektor beschäftigt, nur noch einer von vier Arbeitnehmern arbeitet also im produzierenden Gewerbe. Eines der nach wie vor größten Probleme ist der hohe Arbeitslosenanteil: Eine Quote von 9,2 % weist die Statistik für die Metropolregion Ruhr aus, für sich betrachtet liegen etwa Gelsenkirchen mit 13,1 % und Duisburg mit 11,3 % noch weit darüber. Zum Vergleich: Als Ganzes betrachtet, liegt die Arbeitslosenquote in Nordrhein-Westfalen bei nur 6,8 %. Frühzeitig ging die Landesregierung aber einen wichtigen Schritt, um die Region auf die Zukunft vorzubereiten.

Investitionen in Bildung und Forschung

Mit der Ruhr-Universität Bochum wurde 1962 die erste Universität des Ruhrgebietes gegründet. Die Universität Dortmund folgte kurze Zeit später, 1968. Dazu kamen Anfang der 1970er Jahre die nordrhein-westfälischen Gesamthochschulen in Duisburg, Essen, Hagen, Siegen und Wuppertal. Das waren ungewöhnlich weitblickende Entscheidungen, ohne die der heute oft beklagte Fachkräftemangel um ein Vielfaches kritischer wäre. Durch die förmliche Umwandlung der Gesamthochschulen zu Universitäten im Jahr 2003 bietet das Ruhrgebiet heute eine der dichtesten Hochschullandschaften Europas, mit fünf Universitäten, zehn Fachhochschulen und einer Kunsthochschule. Jeder dritte Studierende in NRW wählt das Ruhrgebiet als seinen Studienort.

Den Bildungseinrichtungen haben sich inzwischen etliche Forschungsinstitute jenseits der Universitäten beigesellt: In Dortmund forscht ein Max-Planck-Institut an molekularer Physiologie, in Mülheim je eines an chemischer Energiekonversion und Kohlenforschung. Auch vier der insgesamt 69 Fraunhofer-Institute haben sich im Ruhrgebiet angesiedelt:

Weitere fünf Institute und Einrichtungen sind entweder Mitglieder oder assoziiert mit der Wissenschaftsgemeinschaft Gottfried Wilhelm Leibniz e. V.

Dass das Ruhrgebiet zu einem exponierten Standort für Bildung und Forschung geworden ist, zeigt auch ein Blick auf die Beschäftigten: Überproportional viele Menschen in der Metropole Ruhr arbeiten in Zukunftsbranchen.

Die erste digitale Revolution

Eine dieser Zukunftsbranchen ist zweifellos die IT: Die Statistik des Landesbetriebs Information und Technik NRW weist für diesen Dienstleistungsbereich allein vom 1. Quartal 2017 zum 1. Quartal 2018 ein Umsatzplus von 13,3 % aus, mehr als in jedem anderen Dienstleistungsbereich.

Die Anfänge dieser Entwicklung reichen in die 1980er Jahre zurück. ELSA ist den Älteren sicher noch ein Begriff. Das Unternehmen wurde – zuerst in Würselen, dann in Aachen – mit Modems, Datenkommunikation und Computergrafik rasch groß. 2002 ging daraus der marktführende Powerline-Spezialist devolo hervor, der bis heute seinen Sitz in Aachen hat.

Zu den IT-Pionieren im Ruhrgebiet gehörten 1985 auch die beiden Bochumer Jungunternehmer Kai Figge und Andreas Lüning, seinerzeit 19 und 20 Jahre alt, die in jenem Jahr auf der Hannover Messe ihre gemeinsame Begeisterung für den Atari ST entdeckten und sich entschlossen, das Software-Angebot für diesen Rechner mit Eigenentwicklungen zu vergrößern. Das war die Geburtsstunde des heute weltweit bekannten Software-Unternehmens G Data, dessen Erfolgsgeschichte übrigens tatsächlich in einer Garage seinen Anfang nahm.

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Ende August 2018 wurde der ausgebaute G Data Campus im ehemaligen Bochumer Konsumverein Wohlfahrt an der Königsallee feierlich eröffnet. Im Bild die Gründervorstände Kai Figge und Andreas Lüning zwischen Oberbürgermeister Thomas Eiskirch (links) und Wirtschaftsminister Prof. Dr. Andreas Pinkwart. (Bild: G Data)

Als 1987 die ersten Computerviren auftauchten (die damals noch auf eine Verbreitung per Diskette angewiesen waren), entwickelten die beiden noch im selben Jahr das möglicherweise weltweit erste Antivirenprogramm. Diese schnelle Reaktion hat sich G Data als Markenkern bewahrt: 2014 bekam das Unternehmen vom EU-Gemeinschaftsprojekt IPACSO (Innovation Framework for Privacy and Cyber Security Market Opportunities) für das schnelle Handeln bei neuen Bedrohungen die Auszeichnung als innovativstes IT-Sicherheitsunternehmen des Jahres. Aus der Zwei-Mann-Garagengründung ist in den vergangenen 31 Jahren ein großes mittelständisches Unternehmen geworden, das mit über 500 Mitarbeitern für die IT-Sicherheit von privaten wie gewerblichen und behördlichen Kunden weltweit sorgt. Beheimatet ist das Unternehmen bis heute auf der Königsallee – der in Bochum wohlgemerkt.

Ein anderes Beispiel für erfolgreiche Technologiegründungen ist die VCS Nachrichtentechnik, die der Dortmunder TU-Professor Klaus-Günter Meng auf den Weg brachte. Schon als Student der Nachrichtentechnik hatte er begonnen, Programme für die Kommunikation mit Satelliten zu schreiben; daraus entwickelte er schließlich ein Unternehmenskonzept. Heute gehört die VCS zum deutsch-britischen Technologieunternehmen SCISYS, das Steuerungssoftware überwiegend für die Bereiche Luft- und Raumfahrt sowie Radio entwickelt. Mehr als 500 Mitarbeiter in Deutschland und in Großbritannien entwickeln Programme für Satelliten oder Raumsonden und arbeiten an Bodenstationen von Luft- und Raumfahrtunternehmen. Zu den Bereichen, die das Unternehmen bedient, gehört allerdings auch Media Broadcasting. Entsprechend ist mit der Digitalisierung des Rundfunks das Auftragsvolumen gewachsen. Seit den 1990er Jahren hat VCS/SCISYS nach und nach die automatische Studio- und Sendetechnik der meisten öffentlich-rechtlichen Stationen aufgebaut. In Deutschland hat das Unternehmen seinen Hauptsitz ebenfalls bis heute in Bochum, daneben auch Standorte in Dortmund, Darmstadt und München.

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Mit Pleniter hat SCISYS Space eine Lösung entwickelt, mit der sich komplette Satellitenmissionen planen und steuern lassen. Unter anderem kommt Pleniter auch beim PTScientists-Projekt Mission to the Moon zum Einsatz. (Bild: SCISYS)

Vertrauen in den IT-Standort Ruhrgebiet haben außerdem mehrere Krankenkassen bewiesen, als sie im Jahr 1994 in Essen das Gemeinschaftsunternehmen Bitmarck auf den Weg brachten. Zweck des Unternehmens ist die „Entwicklung, Wartung, Überlassung und Betreuung von Informationssystemen in der gesetzlichen Krankenversicherung“. Als „führenden IT-Partner im Gesundheitswesen“ beschreibt sich das Unternehmen auf seiner Website. Heute arbeiten rund 1400 Mitarbeiter für den IT-Dienstleister, der größte Teil davon in Essen. Zu den Kunden von Bitmarck zählen aktuell rund 100 Krankenkassen mit insgesamt 20 Millionen Versicherten. Der Jahresumsatz lag zuletzt bei 298 Millionen Euro.

Die zweite Digitalisierungswelle

Die genannten Beispiele sind nur einige von vielen. Mit der Initiative ruhr:HUB will das Ministerium für Innovation, Wissenschaft, Forschung und Technologie solche Gründungen, aber auch die Ansiedlung bereits am Markt etablierter Unternehmen begünstigen. Neben der Förderung von Start-ups und einer generellen Gründermentalität soll der HUB auch als Zentralstelle für die Digitalisierung des Ruhrgebiets dienen. Als Zielsetzung nennen die Initiatoren „die intensive Vernetzung der bestehenden Wirtschaft mit dem vorhandenen Talentpool, Forschungseinrichtungen sowie der Start-up-Szene.“

Auch in Sachen E-Government tut sich einiges in der Ruhr-Region: Das Programm Digitale Verwaltung NRW setzt die rechtlichen Vorgaben zur Förderung digitaler Verwaltungsprozesse in konkrete Maßnahmen um. Damit will sie Bürgerinnen und Bürger, Unternehmen und Verwaltung möglichst von vermeidbarem Verwaltungsaufwand entlasten und gleichzeitig moderne Arbeitsplätze in der Verwaltung schaffen. Den Bürgern und Unternehmen will das Land beispielsweise elektronische Zugänge über De-Mail, ein Servicekonto NRW und ein Serviceportal bieten. Die Betroffenen sollen Behördengänge weitgehend durch Online-Aktionen ersetzen können und damit auch unabhängig von Öffnungszeiten und ohne Rücksicht auf den jeweils aktuellen Andrang zum Ziel kommen. Die Städte Bochum, Dortmund, Essen, Gelsenkirchen und Mülheim wurden im Ruhrgebiet als Modellstädte für das Projekt Digitalwirtschaft ausgewählt.

Smart-City-Initiativen, deren digitale Angebote weit über E-Government-Lösungen hinausgehen, häufen sich im Ruhrgebiet ebenfalls. Intelligente Straßenlaternen, die nur leuchten, wenn sie benötigt werden, vernetzte Klassenzimmer und eine digitalisierte Verkehrsführung samt öffentlicher Verkehrsmittel, deren Routen sich dynamisch den aktuellen Erfordernissen anpassen, gehören zu solchen Konzepten. Eine Vorreiterrolle will Duisburg spielen. Zu diesem Zweck hat Oberbürgermeister Sören Link eine strategische Zusammenarbeit mit dem chinesischen Unternehmen Huawei vereinbart. Die Partnerschaft verfolgt das Ziel, Duisburg in den kommenden Jahren mithilfe neuer Technologien zu einer innovativen digitalen Modellstadt für Westeuropa zu entwickeln. Der Plan sieht außerdem vor, dass Huawei ein gemeinsames Joint Smart City Innovation Center in Duisburg einrichtet.

Serie: Smart City

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Teil 1 gibt eine erste Einführung und stellt als Beispiele die Konzepte in Hamburg, Berlin und Göttingen vor. Teil 2 geht nach Bayern und berichtet, was sich in den Münchner Modellvierteln tut. Teil 3 wechselt über die Grenze nach Österreich – dort hat man nämlich bereits eine nationale Smart-City-Strategie und ist führend im Passivhausbau. Teil 4 stürzt sich dann mitten in die Metropolregion Ruhrgebiet und berichtet unter anderem von der digitalsten Stadt Deutschlands. Den deutschen Südwesten nimmt sich zuletzt Teil 5 dieser Serie vor. Ein Extrabeitrag hat außerdem Beispiele dafür zusammengetragen, was Green IT zur Smart City beitragen kann. (Bild: zapp2photo – Fotolia)

Start-ups halten, Gründer anziehen

Die Zahlen sprächen für sich: 5 Millionen Einwohner, eine sonst nahezu unerreichte Dichte von Hochschulen und Universitäten, hochrangige außeruniversitäre Forschungseinrichtungen und die Nähe zu 155.000 Unternehmen, vom Einmannbetrieb bis zum DAX-Konzern. Das Ruhrgebiet könnte ein gewaltiger Start-up-Magnet sein. Doch bislang zieht es junge Gründer eher nach München oder Berlin. Der oben erwähnte ruhr:HUB will das ändern, und auch weitere Initiativen gehen die Ursachen an. Eine davon dürfte sein, dass Gründer nicht das Ruhrgebiet als Ganzes sehen, sondern jede der 53 Städte für sich betrachten – jede mit ihrem eigenen Verwaltungsapparat, deren Verantwortliche sich nicht selten in Konkurrenz zu denen der Nachbarstädte sehen.

Doch Gründerstammtische und Konferenzen, die über Stadtgrenzen hinaus zum Netzwerken einladen (etwa koks.digital, die Konferenz für digitales Marketing, oder Currywurst & Bier an der Universität Duisburg-Essen), feste Treffpunkte der Gründerszene für das ganze Ruhrgebiet (etwa das Unperfekthaus in Essen) oder Portale (wie das der Ruhrgründer) bringen nach und nach Fahrt in die lokale Start-up-Szene.

In jedem Fall ist der Strukturwandel im Pott seit 70 Jahren Normalzustand – und wird es wohl auch noch lange bleiben. Den Wandel von der Produktions- zur Dienstleistungsgesellschaft hat das Revier inzwischen vollzogen, größtes Problem bleibt aber die im Vergleich hohe Arbeitslosigkeit. Dabei haben die Verantwortlichen schon früh die Bedeutung erkannt, die Menschen zu qualifizieren. Kaum irgendwo ist das Bildungsangebot so dicht wie in der Metropolregion Ruhr. Inzwischen zahlt sich das aus: Fachkräfte kommen oft von den Hochschulen in der Nachbarschaft, und nicht selten werden aus Absolventen auch Gründer, die die Wirtschaft beleben. Kohle mag bald Geschichte sein, aber hart gearbeitet wird auch in Zukunft im Smart Pott.

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Dirk Bongardt hat vor Beginn seiner journalistischen Laufbahn zehn Jahre Erfahrung in verschiedenen Funktionen in Vertriebsabteilungen industrieller und mittelständischer Unternehmen gesammelt. Seit 2000 arbeitet er als freier Autor. Sein thematischer Schwerpunkt liegt auf praxisnahen Informationen rund um Gegenwarts- und Zukunftstechnologien, vorwiegend in den Bereichen Mobile und IT.


Dirk Bongardt, Tel.: 05262-6400216, mail@dirk-bongardt.de, netknowhow.de

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