Studium ohne Abitur: Wer ohne Abitur durch die Universität kommt

Mittlerweile studieren mehr als 50.000 Menschen in Deutsch­land, ohne jemals eine Reife­prüfung ab­gelegt zu haben. Der dritte Bildungs­weg bietet Talentier­ten und Moti­vierten die Chance, ihrer Karriere auch ohne Abitur Flügel zu ver­leihen. Meister, Techniker und Fach­wirte können meist direkt loslegen.

Ohne Abi an die Uni

Von David Schahinian

Lebenslanges Lernen gilt vielen Experten als eine Schlüsselqualifikation, um künftig in der Arbeitswelt noch bestehen und vorankommen zu können. In der Regel ist damit informelles Lernen gemeint: der Umgang mit neuer Software, die Anpassung an neue infrastrukturelle Gegebenheiten im Betrieb oder das Bewältigen neuer Technologien. Auch ältere und weniger computeraffine Arbeitnehmer müssen sich beispielsweise in vielen Unternehmen damit auseinandersetzen, was ein Hashtag oder ein Tweet ist.

Gemeinhin gilt das Abitur als Nachweis allgemeiner Hochschulreife. Studieren ist jedoch auch ohne diesen Abschluss möglich: Der sogenannte dritte Bildungsweg bietet eine zweite Chance zu einer erstklassigen Karriere. Er gibt Spätstartern und solchen, die während der Schulzeit noch nicht genau wussten, wo die Reise später einmal hingehen soll, die Möglichkeit, Lücken zu schließen und Abschlüsse nachzuholen. Die Nachfrage ist groß: Nach Angaben des Centrums für Hochschulentwicklung (CHE) studierten im Jahr 2015 erstmals mehr als 50.000 Menschen in Deutschland ohne Abitur.

Freie Fachwahl für Meister

Eine Möglichkeit bietet die „allgemeine Hochschulzugangsberechtigung für Inhaber beruflicher Fortbildungsabschlüsse“. Die Kulturministerkonferenz machte 2009 mit einem Beschluss den Weg zum Studium für Meister, Techniker und Fachwirte frei. Er ist rechtlich zwar nicht bindend und zudem ist Bildung in Deutschland Ländersache. Aber mit den Vorgaben wurde eine gemeinsame Basis zur Anerkennung der Hochschulzugangsberechtigungen beruflich Qualifizierter geschaffen. Alle Bundesländer haben sich mittlerweile – mehr oder weniger – an ihnen orientiert. Für das Meisterstudium oder die Absolventen anderer Aufstiegsfortbildungen gelten somit in der Regel die gleichen Zugangsvoraussetzungen wie für Abiturienten: Sie können direkt in das Studium einsteigen und ihr Fach frei wählen.

„In der Regel“ – weil die Länder eben stellenweise doch ihr eigenes Süppchen kochen. Nicht umsonst warnt das CHE davor, dass Personen, die ohne allgemeine Hochschul- und Fachhochschulreife studieren wollen, „schon sehr viel Willensstärke und Durchhaltevermögen aufbringen müssen, um sich durch das verworrene Netz der länderspezifischen Besonderheiten hindurch zu kämpfen“. Wie offen der Zugang für beruflich Qualifizierte in den einzelnen Bundesländern ist, regeln die jeweiligen Hochschulgesetze sowie zusätzliche Verordnungen, heißt es beim CHE weiter: „Die Regelungen der einzelnen Bundesländer weisen zum Teil erhebliche Unterschiede bei der Art der Zulassungsverfahren und der Zulassungsvoraussetzungen auf.“

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Schwarz auf Weiß
Dieser Beitrag ist zuerst in unserer Magazin­reihe „IT & Karriere“ erschienen. Einen Über­blick mit Down­load-Links zu sämt­lichen Einzel­heften be­kommen Sie online im Presse­zentrum des MittelstandsWiki.

Auffällig ist, dass das Angebot im naturwissenschaftlichen und technischen Bereich (MINT) bisher eher zögerlich angenommen wird. Es hat sich offenbar noch nicht überall herumgesprochen, dass der Weg zum Ingenieur auch ohne Abi möglich ist. Die Hälfte der Erstsemester ohne schulische Zugangsberechtigung entschied sich 2014 zumindest für einen Studienplatz in Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, gefolgt von Sprach- und Kulturwissenschaften (14 %). Ingenieurwissenschaften wählten lediglich 13 %.

Mit Berufserfahrung punkten

Ein weiterer Weg an die Hochschule führt über eine erfolgreich abgeschlossene, durch Bundes- oder Landesrecht geregelte mindestens zweijährige Berufsausbildung sowie eine mindestens dreijährige Berufspraxis. Dieser ist jedoch mit einer Eignungsprüfung oder einem Probestudium verbunden und bietet weniger Auswahl: „Der gewünschte Studiengang muss fachlich zur Ausbildung und Berufspraxis passen“, erklärt die Kultusministerkonferenz.

Ob die entsprechenden Voraussetzungen im Einzelfall erfüllt werden, prüft und entscheidet die Hochschule, die den Studiengang anbietet, oder eine entsprechende Trägerhochschule, die die Entscheidung landesweit für einzelne Studienfächer trifft. Der fachgebundene Hochschulzugang für beruflich Qualifizierte wird nach bestandener Prüfung ausgestellt, bedeutet aber nicht automatisch einen Studienplatz: Wie alle anderen Berechtigten muss man sich in Studienfächern mit Zulassungsbeschränkung um einen solchen bewerben.

Die individuelle Recherche kann lohnen, denn mitunter ist trotzdem ein Studium möglich, das nicht mit der beruflich ausgeübten Tätigkeit in Zusammenhang steht. Vorausgesetzt wird dann aber meist der Nachweis von fundierten zusätzlichen Fort- und Weiterbildungen in dem Bereich, in dem das Studium angestrebt wird. Die Kenntnisse werden überprüft, bevor die fachgebundene Hochschulzugangsberechtigung ausgestellt wird. In manchen Bundesländern wird auch eine sogenannte Begabtenprüfung angeboten, die es Fachfremden ohne Abitur ermöglicht, die Studienberechtigung mittels eines Tests nachweisen zu können. Andere Hochschulen setzen wiederum ein Probestudium voraus.

Keine leichte Entscheidung

Studieren ist kein Zuckerschlecken. Das gilt umso mehr für bereits Berufstätige, die sich an der Hochschule einschreiben. Der Bundesagentur für Arbeit (BA) zufolge bedeutet es meist eine tiefgreifende Veränderung des eigenen Alltags und der zeitlichen Flexibilität, sofern nicht berufsbegleitend studiert wird. Zahlreiche Anbieter haben sich darauf spezialisiert, Interessenten in Vorbereitungskursen fit für die Hochschule zu machen – und Lerntechniken zu vermitteln oder aufzufrischen, die im Berufsalltag möglicherweise verschüttgegangen sind. „Je mehr Leidenschaft und je größer die eigene Überzeugung ist, desto leichter fällt es“, heißt es bei der BA weiter.

Das führt zu einer grundsätzlichen Frage: der nach dem Sinn, auf die berufliche Laufbahn nachträglich noch ein Studium draufzusatteln. Für viele dürfte die drohende Sackgasse der eigenen Karriere oder die Verbesserung der Aufstiegschancen ein Grund sein, erneut die Schulbank zu drücken. Akademiker sind bekanntermaßen seltener von Arbeitslosigkeit betroffen als der Durchschnitt der arbeitenden Bevölkerung. Eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) förderte 2015 jedoch ein bemerkenswertes Ergebnis zutage. Insgesamt kamen die Forscher zu dem Schluss, dass Bildungsinvestitionen selbst nach Berücksichtigung der Kosten hohe individuelle und gesellschaftliche Vorteile bringen. Sie wiesen aber auch Folgendes nach: „Unter den Personen mit abgeschlossener Berufsausbildung nahmen Techniker und Meister eine besondere Rolle ein: Sie waren im Schnitt weniger häufig erwerbslos als Akademiker.“

Motivation und Einsatz

Wer sich für das Studieren ohne Abi entscheidet, braucht Motivation: Es wird viel theoretisches Wissen vermittelt, was einen nicht ganz einfach zu meisternden Gegensatz zur praktischen Arbeit im Betrieb darstellt. Zudem kommt das Gehalt im Job regelmäßig – darauf zum Teil oder komplett verzichten zu müssen, um später vielleicht einmal ein höheres Einkommen zu erzielen, verlangt Disziplin und Einsatz. Nicht zu unterschätzen ist zudem, dass die Kommilitonen im Schnitt einige Jahre jünger sind, da viele direkt nach der Schule an die FH oder die Universität wechseln.

Eine Garantie gibt es natürlich auch für die Studierenden ohne Reifezeugnis nicht: Stellt sich das Studium trotz guter Vorbereitung und Eignungsprüfung als zu schwer heraus, muss man damit umgehen können. Interessierte sollten sich jedoch nicht so schnell entmutigen lassen: Empirische Studien belegen die ausgeprägte Studienmotivation und Leistungsbereitschaft sowie die hohe Qualität ihrer beruflichen Ausbildung und Expertise, weiß das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) zu berichten.

Studierende ohne Abitur haben zudem den Vorteil, dass sie meist schon wissen, wie der Hase läuft. Sie kennen die Anforderungen im alltäglichen Arbeitsleben und haben viele Inhalte schon von ihrer praktischen Seite kennengelernt. Andere gehen an die Hochschule, um den Master zu machen – sie kommen bereits als Meister der Praxis. Darüber hinaus ist unzweifelhaft, dass sich die Berufsperspektiven verbessern, wenn die Zeugnisse sowohl praktisches als auch theoretisches Wissen dokumentieren. Wer ein Studium fernab des eigenen Berufsbildes wählt, kann sich zudem fachlich breiter aufstellen. Andersherum bietet die vertiefte Spezialisierung auf ein Kerngebiet die Möglichkeit, geballte Kompetenz aufzubauen.

Finanzielle Förderung

Trotz aller zeitlichen und finanziellen Einbußen beim Studium ohne Abitur: Auf sich allein gestellt ist man nicht. So gibt es mehrere Förderungen, die unter bestimmten Voraussetzungen finanzielle Hilfe bieten. Eine Möglichkeit ist das Aufstiegsstipendium der Bundesregierung. „Als Teil der Qualifizierungsinitiative der Bundesregierung richtet es sich an Studienbewerber, die als beruflich Qualifizierte mindestens zwei Jahre Berufserfahrung mitbringen“, berichtet die BA. Es richtet sich unter anderem an Meister und Techniker, die ihre Berufsabschluss- oder Fortbildungsprüfung besser als „gut“ beendet, oder einen Sieg bei einem überregionalen beruflichen Leistungswettbewerb errungen haben. Darüber hinaus können Kandidaten auch von ihrem Arbeitgeber mit einer begründeten Empfehlung für das Stipendium vorgeschlagen werden.

Im Vollzeitstudium erhalten sie 735 Euro im Monat zuzüglich 80 Euro Büchergeld. Hinzu kommt unter Umständen eine Kinderbetreuungspauschale von 130 Euro für jedes Kind. In einem berufsbegleitenden Studiengang beträgt die Förderung 2400 Euro pro Jahr. Das Geld muss nicht zurückgezahlt werden. Von den 1000 Stipendien, die jährlich vergeben werden können, studiert etwa ein Drittel berufsbegleitend.

Darüber hinaus gibt es weitere Stipendien, die jedoch meist in einem engeren Rahmen gefasst sind. Die Hans-Böckler-Stiftung etwa fördert insgesamt 19 Vollzeit-Studiengänge an der Universität Duisburg-Essen sowie an der Hochschule Niederrhein in Krefeld, die zum Bachelor-Abschluss führen. Aktuell erhalten Stipendiaten bis zu 670 Euro monatlich sowie eine Pauschale von 300 Euro plus gegebenenfalls weitere Zuschläge. Neben der finanziellen Förderung umfasst das Stipendium auch einen Vorbereitungskurs an der Hochschule, Unterstützung beim Lernen bis zum dritten Semester sowie Seminare zur Vorbereitung des Übergangs vom Beruf ins Studium.

Weitere Möglichkeiten der Studienfinanzierung bestehen durch BAföG-Leistungen oder einen Bildungskredit der Bundesregierung. Insgesamt können nach der Zwischen- oder Vorprüfung höchstens 7200 Euro bewilligt werden, die die „finanziell sorglose Fortsetzung des Studiums“ ermöglichen sollen. Es gibt auch private Anbieter von Krediten, die etwaige Finanzierungslücken während des Studiums stopfen sollen. „Interessenten sollten die einzelnen Angebote sehr genau vergleichen und auf eine niedrige Verzinsung und flexible Rückzahlungsmöglichkeiten achten“, rät die BA.

Gaudeamus igitur!

„Lebenslange Weiterbildung und die Öffnung der Hochschulen für neue Zielgruppen sind die zeitgemäßen Antworten auf den Fachkräftebedarf und den demografischen Wandel“, schreibt die Kulturministerkonferenz. Fach- und Führungskräfte werden allenthalben gesucht. Gerade unter diesen Voraussetzungen wäre es unfair, talentierten Arbeitnehmern diesen Karriereweg lediglich zu versperren, weil sie in der Jugend eine falsche Entscheidung getroffen haben oder ihr Abitur, aus welchen Gründen auch immer, nicht machen konnten.

Von einer Entwertung der üblichen Zugänge zur Hochschule kann übrigens keine Rede sein. Im Gegenteil: Wer sich als Meister oder Techniker trotzdem noch für ein zusätzliches Studium entscheidet, ist in der Regel besonders motiviert – vielleicht motivierter als ein Erstsemester, der sein Studienfach nicht aus voller Überzeugung gewählt hat. Studieren ohne Abitur wird beliebter, aber die rund 50.000 Menschen, die diesen Weg eingeschlagen haben, sind nach wie vor ein kleiner Teil der insgesamt rund 2,7 Millionen Menschen, die in Deutschland studieren. Es könnten durchaus noch mehr werden.

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David Schahinian arbeitet als freier Journalist für Tageszeitungen, Fachverlage, Verbände und Unternehmen. Nach Banklehre und Studium der Germanistik und Anglistik war er zunächst in der Software-Branche und der Medienanalyse tätig. Seit 2010 ist er Freiberufler und schätzt daran besonders, Themen unvoreingenommen, en détail und aus verschiedenen Blickwinkeln ergründen zu können. Schwerpunkte im IT-Bereich sind Personalthemen und Zukunftstechnologien.

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