Life Sciences: Wie sich Chemie und Pharma neu erfinden

Die Chemie­industrie und der pharma­zeutische Zweig befinden sich im Um­bruch. Beide müssen im Zeichen der Digi­tali­sierung Strukturen und Pro­zesse über­denken. Covid-19 wirkt als zu­sätzlicher Treiber, der auch For­schung und Ent­wicklung ver­ändert. Und im Gesund­heits­segment mischen un­erwartete Player mit.

Health heißt das Motto

Von Friedrich List

Die chemische Industrie kämpft mit einer schwächelnden Nachfrage in Deutschland. Aber auch die Krise der Autobranche, die weniger Lacke, Kunststoffe und Reifen bestellt, belastet sie. Hinzu kommen globale Handelskonflikte und wachsende Konkurrenz aus anderen Teilen der Welt. Mehr noch: „Nicht nur steht die Chemieindustrie vor neuer übermächtiger Konkurrenz aus Fern- und Nahost, sondern muss sich auch zum Zwecke der Klimaneutralität quasi neu erfinden. Für diesen Wandel ist Digitalisierung unerlässlich“, sagt Dr. Frank Funke, Geschäftsführer von 5-HT Digital Hub Chemistry & Health aus Mannheim/Ludwigshafen. „Die Gesundheitsbranche ist da schon viel besser unterwegs. Hier ergeben sich ungeahnte Möglichkeiten in Richtung personalisierte Medizin. Der menschliche Körper ist eine Rechenaufgabe, die es zu lösen gilt. Medizin wird in einigen Jahrzehnten anders aussehen als heute. Die damit einhergehende Digitalisierung wird eher als Chance begriffen“, so Funke weiter.

Industrie und Entrepreneure vernetzt

In der Pharmaindustrie wächst der Preisdruck auf die Arzneimittelhersteller. Hinzu kommt der stärkere Fokus auf personalisierte Behandlungsmethoden. Patienten von heute sind besser informiert, sie leben gesundheitsbewusster und konzentrieren sich stärker auf die Vorsorge. Gleichzeitig liefert die Digitalisierung eine bisher nicht gekannte Fülle an Datenmaterial, das angemessen aufbereitet und verarbeitet werden soll.

Um die Digitalisierung in der BRD voranzubringen, rief die Bundesregierung 2018 die de:hub-Initiative ins Leben. Auf Deutschland verteilt wurden insgesamt zwölf Digital Hubs gegründet. Die Hubs sollen den Austausch zwischen Forschung, etablierten Unternehmen und der Start-up-Welt vorantreiben. Jeder Hub verfolgt seine eigenen thematischen Schwerpunkte und bietet Firmen wie auch Start-ups die Möglichkeit, miteinander in Kontakt zu kommen. So eröffnen sich Kooperationsmöglichkeiten. Start-ups bekommen hier Gelegenheit, Förderung und interessierte Partner für ihre Projekte zu finden. Der Digital Hub 5-HT Chemistry & Health in Ludwigshafen produziert digitale Lösungen für die Chemie- und Gesundheitsbranche. Der Schwerpunkt des Digital Health Hubs Nürnberg/Erlangen liegt hingegen auf digitalen Prozessen und KI-Lösungen sowie auf neuen Geschäftsmodellen im Gesundheitssektor.

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Die Gelita AG aus Eberbach ist Weltmarktführer in der Gelatineproduktion. Beim ersten German Innovation Award 2018 holte das Unternehmen Gold für das Reinigungsmittel-Additiv Novotec CB800, im Jahr darauf wurde es in der Kategorie „Excellence in Business to Business“ im Bereich „Pharmaceuticals“ ausgezeichnet: für das Kollagenpeptid Fortibone gegen Knochenschwund. Seit Mai 2020 ist Gelita auch Partner des 5-HT Digital Hubs Chemistry & Health. (Bild: Gelita)

5-HT Digital Hub Chemistry & Health

Um den seit zwei Jahren aktiven Hub in Ludwigshafen hat sich Europas wohl am schnellsten wachsendes Netzwerk an Start-ups und etablierten Firmen entwickelt. Zu den Gesellschaftern gehören Unternehmen wie BASF, der Sensorikhersteller Pepperl+Fuchs sowie der Softwarehersteller SAP. Unter den Sponsoren finden sich Merck, Roche und Phoenix Pharma. 5-HT-Manager Frank Funke sieht die Stärke des Hubs darin, dass die Verantwortlichen sowohl die Welt der Start-ups als auch die der Industrie kennen. „Durch unser Industrienetzwerk erhöht sich die Attraktivität für die Start-ups“, sagt er. Der Hub bietet verschiedene Formate, um beide Seiten miteinander ins Gespräch zu bringen.

Serie: Innovations- und Gründerzentren
Der Einführungsbeitrag gibt eine erste Übersicht für Gründer und Start-ups. Dabei interessiert auch die Frage, wie sich die Locations auf den eigenen Erfolg und die Karriere auswirken. Teil 1 stellt dann konkrete Beispiele aus Berlin, Hamburg und anderen Orten im deutschen Norden und Osten vor. Teil 2 reist nach Köln, Dortmund, Mainz und Gummersbach, um die Technologiezentren an Rhein und Ruhr zu sichten. Überraschungen hat auch der Südwesten parat, von dem Teil 3 berichtet – aus Darmstadt und Stuttgart ebenso wie aus dem beschaulich-umtriebigen Bad Orb. Teil 4 geht schließlich in den Postleitzahlenbereich 8 und 9 nach Bayern und Thüringen: Auch außerhalb von München bekommen Gründer gute Unterstützung. Sonderbeiträge geben außerdem Auskunft über die Innovations- und Gründerzentren in Österreich und die dortige Start-up-Szene.

Die 5-HT X-linker-Veranstaltung dauert fünf Tage und bereitet Entrepreneure auf ihre Präsentationen vor größeren Unternehmen vor. Im Rahmen des Digital Qualifiers arbeiten Studenten für ein Semester an Forschungen aus der Industrie und werden dabei von Wissenschaftlern und Fachleuten aus der Industrie begleitet. Die Hochschulpartner bei diesem Format sind das Karlsruher Institut für Technologie, die Hochschule für Angewandte Wissenschaften Ludwigshafen und die Hochschule Fresenius in Idstein. Insuring Digital Health vernetzt hingegen Gründer und Verantwortliche aus Krankenkassen und Krankenversicherungen. Als Start-ups gelten dabei Unternehmen, die jünger sind als zehn Jahre und ein Geschäftsmodell verfolgen, das sich skalieren lässt. Zum Netzwerk des Digital Hubs gehören derzeit über 130 frisch gegründete Firmen aus der gesamten Welt.

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Schwarz auf Weiß
Dieser Beitrag ist zuerst in unserer Magazin­reihe „IT-Unternehmen aus der Region stellen sich vor“ erschienen. Einen Über­blick mit freien Down­load-Links zu sämt­lichen bereits verfügbaren Einzel­heften bekommen Sie online im Presse­zentrum des MittelstandsWiki.

Inzwischen schlägt sich Covid-19 auch in Lösungen von Start-ups nieder. So regelt bei BesuchsSystem eine App den Besucherstrom in Kliniken und Pflegereinrichtungen. Das niederländische Start-up hat eine künstliche Intelligenz entwickelt, die Anwendern dabei hilft, für ihre Zwecke im Bereich Forschung und Entwicklung geeignete Technologien zu finden. Inzwischen wurde die KI erweitert, um für die Corona-Forschung wichtige Daten zu finden und kostenfrei zur Verfügung zu stellen.

Auf KI-Technologie setzt auch iLoF aus dem britischen Oxford. Die Anwendung nutzt KI-Algorithmen und eine spezielle Glasfaseroptik, um biologische Nanostrukturen in flüssigen Dispersionen ausfindig zu machen. Das erleichtert personalisierte Arzneimittelanwendungen. Zudem wird die Auswahl von Patienten für klassische Studien billiger. Auch die Trefferquote bei der Suche nach geeigneten Kandidaten steigt. Nun arbeitet iLoF daran, sowohl klinische Ergebnisse als auch die Schwere der Symptome von Corona-Erkrankten zu prognostizieren.

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Seit 1. September 2020 ist das neue Nationale Gesundheitsportal des Bundesgesundheitsministeriums online, mit einer interaktiven Scrollytelling-Animation samt schwenkbaren 360-Grad-Videos, die Covid-19 anschaulich erklären. In Szene gesetzt hat dies die Münchner Cat Production GmbH mit ihrer Bibliothek medizinischer Visualisierungen. Auf der Grenze zwischen BioTech und MedTech ist sie auch im Medical Valley unterwegs.(Bild: Bundesministerium für Gesundheit)

Digital Hub Nürnberg/Erlangen

Hier haben sich drei Träger zusammengeschlossen. Das Medical Valley Erlangen sieht sich als Ansprechpartner für Start-ups und vermittelt zwischen Gründern, Unternehmen und Wissenschaftlern. Gründer und ihre Produkte werden bis zur Marktreife begleitet. Der Zollhof Tech Incubator betreut sogenannte Early Stage Start-ups, also Firmengründer in der Frühphase. Diese werden dabei unterstützt, Business-Pläne zu entwickeln und geeignete Investoren zu finden. Hinzu kommt der Support von Crowdfunding-Kampagnen sowie die Vernetzung mit Partnern. Eine wichtige Rolle spielt zudem die Beratung bei regulatorischen Fragen, wenn es beispielsweise darum geht, wo Daten von Apps und medizinischen Geräten gespeichert werden dürfen und welche Sicherheitsanforderungen für die Zusammenarbeit mit Kliniken gelten.

Thema: Life Sciences
Ein erster Einstieg beginnt am Rhein in Ludwigshafen, er berichtet vom 5-HT Digital Hub Chemistry & Health und vom Digital Health Hub Nürnberg/Erlangen. Parallel dazu gibt es einen Report aus Österreich, der die Themenfelder Lebenswissenschaften, Biotechnologie und Nachhaltigkeit verbindet.

Die Health Hackers verstehen sich als ein Verein, der Digital-Healthcare-Enthusiasten versammelt und die Tech-Community ansprechen will. Ziel sind praktische Lösungen für die Gesundheitsbranche. Dazu bringt der Verein Krankenhausmanager, Ärzte, Wissenschaftler und Entwickler miteinander ins Gespräch. Mit Vitas und Climedo sind aus dem Hub zwei Start-ups hervorgegangen, deren Projekte sich mit der Corona-Krise beschäftigen. Vitas hat einen KI-gestützten Sprachassistenten entwickelt, der stark belastete Institutionen wie Behörden oder Krankenhäusern dabei hilft, auf Anfragen von außen zu reagieren. Durch den Sprachassistenten können Routinefragen schneller beantwortet werden, was den Mitarbeitern einer Hotline mehr Zeit für komplexe Anliegen verschafft.

Climedo stellt eine Lösung bereit, die Krankheitsverläufe von Corona-Patienten in digitalen Patientenbüchern dokumentiert. Zum Registrieren nutzt Climedo eine Online-Plattform. Dort finden interessierte Teilnehmer einen standardisierten Fragebogen der örtlichen Gesundheitsbehörde. Dadurch kann der Gesundheitszustand verfolgt werden; die Daten stehen Ärzten wie auch wissenschaftlichen Einrichtungen zur Verfügung.

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Friedrich List ist Journalist und Buch­autor in Hamburg. Seit Anfang des Jahr­hunderts schreibt er über Themen aus Computer­welt und IT, aber auch aus Forschung, Fliegerei und Raum­fahrt, u.a. für Heise-Print- und Online-Publikationen. Für ihn ist SEO genauso interessant wie Alexander Gersts nächster Flug zur Inter­nationalen Raum­station. Außerdem erzählt er auch gerne Geschichten aus seiner Heimatstadt.

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