Automobilindustrie 4.0: Wo Ingenieure im vir­tu­el­len Wind­kanal arbeiten

Nicht nur die Autos der Zu­kunft ent­stehen mitt­ler­weile mit­hilfe smarter Daten­brillen. Auch ganze Pro­duk­tions­prozes­se werden in der vir­tu­el­len Rea­li­tät ge­plant und ge­testet. Auf dem Uni-Campus in Stutt­gart ent­werfen jetzt For­scher in­no­va­tive Mo­bi­li­täts­kon­zepte und zu­kunfts­weisen­de Pro­duktions­formen.

Start frei in der Arena2036

Von Friedrich List

Große Konzerne wie Daimler nutzen bereits in vielen Bereichen Virtual-Reality-Technologien – in der Fahrzeugentwicklung, im Design, bei der Planung neuer Standorte oder der Produktionsplanung. Auch die nächste Stufe sogenannter Augmented Reality (AR) wird im Automotive-Sektor zunehmend eingesetzt. Dass aber eine ganze Reihe prominenter Unternehmen und Forschungsinstitute ihre Kompetenzen bündeln, um in einer eigens geschaffenen flexiblen Forschungsfabrik neue Produkt- und Produktionsideen zu entwickeln, ist zumindest in Deutschland bislang einzigartig.

Die Forschungsarena

Daimler hat sich mit Partnern aus Industrie und Forschung zusammengeschlossen, um ein gemeinsames Entwicklungszentrum zu betreiben. In der Arena2036 auf dem Campus der Universität Stuttgart arbeiten Entwickler aus großen Unternehmen, Forscher renommierter Institute und kreative Köpfe aus der Start-up-Szene an der Fabrik der Zukunft. Das Akronym ARENA steht für „Active Research Environment for the Next Generation of Automobiles“, zu deutsch etwa „Aktive Forschungsumgebung für die nächste Automobil-Generation“. Auch die Zahl 2036 hat ihre besondere Bedeutung, denn im Jahre 2036 kann die Automobilindustrie ihr 150jähriges Bestehen feiern.

Gegründet wurde die Arena2036 im Juni 2013 von damals sieben Partnern. Inzwischen ist deren Zahl auf 31 angewachsen. Darunter sind neben dem Automobilbauer selbst auch namhafte Unternehmen wie Siemens, Bosch, Baluff, Faro, Festo und BASF sowie das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt, die Universität Stuttgart und zwei Fraunhofer-Institute. Für die Arena2036 errichtete man ab 2016 dann eine Forschungsfabrik, die Anfang 2018 offiziell eröffnet wurde. Gegliedert ist die Arbeit in vier Bereiche: Mobilität, Produktion, Arbeit und Digitalisierung.

Automobilbau der Zukunft

Im Forschungsbereich Mobilität liegt der Schwerpunkt auf neuen Technologien für das Fahrzeug selbst, seinen Einsatz und seine Herstellung. Erforscht werden innovative Mobilitätskonzepte, zukunftsweisende Materialien, intelligente Bauteile und Vernetzungslösungen, beispielsweise Konnektivitätsdienstleistungen für den Nutzer. Weitere Forschungsthemen sind elektrische Antriebslösungen und autonomes Fahren.

Der Forschungsbereich Produktion soll ergründen, wie nach dem Ende des Fließbandzeitalters und in einem von smarten Sensornetzen und künstlicher Intelligenz geprägten Produktionsumfeld Autos und andere Fahrzeuge hergestellt werden. Im Fokus ist dabei nicht die Produktion von morgen, sondern vielmehr die von übermorgen. Deren Betriebsmittel werden modular aufgebaut und leicht zu transportieren sein. Zudem werden sie miteinander vernetzt sein und genügend eingebaute Intelligenz besitzen, um sich selbst zu organisieren. Sie lassen sich idealerweise aus ihren Modulen je nach Auftrag und Umgebung neu konfigurieren. Dadurch können sie schnell an sich verändernde Anforderungen angepasst werden.

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Schwarz auf Weiß
Dieser Beitrag erschien zuerst in unserer Magazin­reihe „IT-Unternehmen aus der Region stellen sich vor“. Einen Über­blick mit freien Down­load-Links zu sämt­lichen Einzel­heften bekommen Sie online im Presse­zentrum des MittelstandsWiki.

Menschen werden nicht mehr als Teil der Maschinerie agieren, sondern als Gestalter. Um das zu verwirklichen, entwickeln die Forscher intuitive Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine, sodass die intuitiven und kreativen Fähigkeiten von Menschen und die Leistungsfähigkeit und Genauigkeit der Roboter optimal zusammenarbeiten können.

Der Forschungsbereich Arbeit konzentriert sich auf die Kommunikation im Rahmen der Arbeitsprozesse – sowohl diejenige zwischen Mensch und Maschine als auch die der Menschen und die der Maschinen untereinander. Dabei soll untersucht werden, wie künstliche Intelligenz als Mittlerin zwischen allen Beteiligten fungieren kann. Außerdem sollen Mitarbeiter in die Lage versetzt werden, sich mithilfe von Robot- und Assistenzsystemen ihre eigenen Arbeitsplätze einzurichten.

Die Forschungsabteilung Digitalisierung untersucht schließlich, wie die gesamte Kette von der Bauteilentwicklung über die Produktion bis hin zur Nutzung des Produkts möglichst durchgängig digital abgebildet werden kann. Dabei soll die Kommunikation möglichst weit automatisiert stattfinden, sodass einzelne Bauteile zwischen den einzelnen Prozessschritten ihren jeweiligen Status übermitteln können. Die Bauteile sollen dann auch weiterhin Daten übermitteln, wenn sie im Endprodukt verbaut und beim Kunden in Gebrauch sind.

Serie: Mobilität 4.0
Der Einführungsbeitrag beginnt in Berlin – die Bundeshauptstadt ist experimentierfreudiger Vorreiter neuer Mobilitätskonzepte. Gute Beispiele meldet der Report auch aus Hamburg und Dresden. Teil 2 begibt sich dann in den Westen nach Nordrhein-Westfalen; dort hat das Zukunftsnetz Mobilität NRW viele Projektfäden in der Hand. Eine wichtige Rolle spielt hier der öffentliche Personennahverkehr, denn immer mehr Verkehrsbetriebe lassen ihre Busse mit Biogas fahren. Teil 3 geht zu den Ursprüngen der Automobilindustrie und sieht sich an, wie sich Baden-Württemberg und insbesondere Stuttgart die Zukunft der Mobilität vorstellen. Teil 4 berichtet aus dem benachbarten Flächenland Bayern, Teil 5 fährt über die Grenze nach Österreich. Außerdem gibt es bereits einen Report zu mobilen Stauwarnanlagen und intelligentem Verkehrsmanagement sowie zu autonomen Schiffen, Wasserstoffprojekten, Business-Bikes, Stadtseilbahnen sowie Lufttaxis und Urban Air Mobility.

Virtuelle Roboterzwillinge

Eines der Produkte der Forscher in der Arena2036 ist Banana Joe, ein Roboter, der in der Forschungsfabrik Materialkisten von einer Arbeitsstation zur nächsten schiebt. Sobald sich ein Mensch nähert, bleibt er stehen und blinkt, bis sein Weg wieder frei ist. Nun sind mehr oder weniger autonome Transportkarren in der Industrie nichts Ungewöhnliches mehr. Aber sie bewegen sich auf markierten Wegen, die für Menschen tabu sind. Damit aber das industrielle Miteinander unkomplizierter wird, soll Banana Joe lernen, seinen menschlichen Kollegen selbstständig auszuweichen. Er soll auch entscheiden können, ob er nicht doch lieber wartet, anstatt einen Umweg um das Hindernis herum zu nehmen.

Die Teile, die Banana Joe befördert, werden an ihrem Ziel weiterverarbeitet. Zudem sind sie bis zur letzten Schraube digital erfasst. Sie selbst wie auch das Endprodukt existieren nicht nur real, sondern als digitaler Zwilling auch virtuell. So lassen sich Arbeitsprozesse, aber auch Arbeitsplätze untersuchen und optimieren. Ein Beispiel dafür ist die Kollaboration von Werkern mit einem Industrieroboter für schwere Lasten. Die Arbeitsgänge selbst werden von Sensoren aufgezeichnet und später ausgewertet. Außerdem kann der Roboter seine menschlichen Kollegen sehen und stoppt, wenn sie sich nähern. Er kann auch in einen Handführmodus geschaltet werden. Ziel ist dabei ein Arbeitsplatz mit mehr Sicherheit und besserer Ergonomie, in dem menschliches Fachwissen mit der Kraft des Roboters zusammenwirken kann.

Digitale Prototypen

Ein weiteres Zukunftsthema neben der Digitalisierung ist der Leichtbau. Durch ihn lassen sich Rohstoffe, Kosten und Energie einsparen. Forscher in der Arena2036 treiben die Entwicklung eine Stufe weiter, indem sie die Bauteile zusätzlich mit funktionalen Eigenschaften ausstatten. Das können gängige Eigenschaften wie Schall- oder Wärmedämmung sein, aber auch thermische, sensorische oder elektrische Funktionen. Auch das Speichern von Flüssigkeiten oder Energie wäre denkbar. Konkret lassen sich beispielsweise Wandpaneele mit eingebauten Sensoren oder Vorrichtungen zur aktiven Schalldämmung durch Gegenschall vorstellen. Im Rahmen des Projekts LeiFu (Intelligenter Leichtbau durch Funktionsintegration) arbeiten die Forscher an den Grundlagen für verschiedene Einzelfunktionen. Als Demonstrator dient ein Sandwich-Bodenmodul aus carbonfaserverstärktem Kunststoff. Es macht das Fahrzeug leichter und enthält induktive Ladespulen, eine Batteriebox sowie Einbauten zur Verbesserung der mechanischen Eigenschaften. Die Ergebnisse wollen die Forscher später auch auf Metallteile übertragen.

Auch im Projekt DigitPro (Digitaler Prototyp) geht es um den Leichtbau. Hier untersuchen die Experten aber, wie sie den gesamten Prozess von der Konzeption der ersten Prototypen bis hin zur Großserienproduktion digital abbilden und einen durchgängigen Datenaustausch durch alle Stufen des Prozesses hindurch sicherstellen. Dieser digitale Prototyp wird durch alle Stufen verändert und angepasst. Allerdings muss bei hybriden Werkstoffen, die im Automobilbau zunehmend genutzt werden, Neuland beschritten werden. Digitale Prototypen existieren bislang nur für metallische Werkstoffe, nicht für Faserverbundkunststoffe. Komponenten aus diesen Kunststoffen weisen andere mechanische Eigenschaften auf als Bauteile aus Metall. Also arbeiten im Rahmen von DigitPro Experten nun daran, beispielhaft für eine Faserverbundstruktur einen digitalen Prototypen zu erzeugen und über alle Stufen vom Design über Konstruktion zur Produktion zu modellieren. So entsteht ein Simulationstool zum Entwickeln realer Bauteile, das einen Teil der physischen Tests einspart.

Fabrik der Zukunft

Neben derartigen Projekten wird auf dem Campus der Arena2036 auch an der Weiterentwicklung der Forschungsfabrik gearbeitet. Das soll letztlich dazu führen, neue Produktionsformen jenseits der Bandmontage zu entwickeln, mit denen die Industrie ein breites Spektrum an Varianten in derselben Anlage produzieren kann – etwa Fahrzeuge, deren verschiedene Versionen entweder mit Brennstoffzellen fahren oder Hybridantriebe nutzen, in eher konventioneller oder in hybrider Bauweise produziert werden.

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