Digitalisierung im deutschen Südwesten: Wie Baden-Württemberg die Digitalisierung angeht

Der digitale Wandel setzt Unter­nehmen unter Druck: Wer im An­ge­sicht der globalen Kon­kurrenz wett­bewerbs­fähig bleiben will, muss in neue Tech­no­logien in­vestieren, um nicht den An­schluss zu ver­lieren. Im Spagat zwischen Tradition und Inno­vation zeigen die digitalen Vor­zeige­unter­nehmen des Süd­westens, wie die Trans­formation gelingt.

Vernetzte Vollautomatisierer

Von Kai Tubbesing

Baden-Württemberg ist der Sitz von rund 492.000 kleinen und mittelgroßen Unternehmen, der größte Teil befindet sich in Familienhand. Traditionell stark ist die Automobil- und Zulieferindustrie vertreten, hier entfalten Hersteller wie Daimler und Porsche ihre Sogwirkung. Zu den wichtigsten Kernbranchen zählen zudem der Maschinenbau, die Metallindustrie, der Handel und Softwareentwickler wie SAP oder Lexmark.

Familienunternehmen gehen voran

Eine für die Gesamtwirtschaft besonders wichtige Rolle nehmen die Familienunternehmen des Bundeslandes ein: Im Ranking der tausend umsatzstärksten Vertreter stellt Baden-Württemberg 190 (darunter 138 aus dem Industriesektor) und liegt damit deutschlandweit auf dem dritten Platz hinter Nordrhein-Westfalen und Bayern. Diese allein erwirtschaften zusammen bereits einen Jahresumsatz von 409 Milliarden Euro, allen voran die Schwarz-Gruppe als größter Handelsvertreter Europas. Auf den Plätzen folgen Bosch, die Merckle-Gruppe, Mahle und die Würth-Gruppe. In den Top 30 des Bundeslandes rangieren ausschließlich familiär geführte Großunternehmen, darunter Liebherr, Trumpf und Festo. Als Vorreiter aus dem produzierenden Gewerbe treiben sie die vierte industrielle Revolution voran und weisen nicht nur selbst einen hohen Reifegrad in puncto Digitalisierung auf, sondern agieren auch als Lösungsanbieter für ihre Kunden.

Thema: Digitalisierung
Eine Einführung macht mit Chancen und Risiken vertraut; dazu gibt es gleich die ersten Beispiele: Otto in Hamburg, Lufthansa Technik und Viessmann in Berlin. Danach geht der Blick Richtung Nordrhein-Westfalen zu Henkel und Grohe, aber auch zu Hidden Champions wie der Harting-Gruppe. In Bayern sind Jungheinrich, die Wenzel Group, Lamilux und natürlich KUKA gute Beispiele, in Baden-Württemberg Firmen wie Festo und Trumpf. Der Blick über den Tellerrand nach Österreich zeigt, dass dort Namen wie Erema, Radel & Hahn und LiSEC, aber auch Red Bull digital erfolgreich unterwegs sind. Auf die Chancen der Digitalisierung geht dann Matthias Meyer genauer ein, der Beispiele aus den Bereichen Big Data, Augmented und Virtual Reality sowie Open Innovation nennt. Eher in Richtung Disruption geht das Digitalisierungsinterview, das wir mit Andreas Franken geführt haben; mit ihm haben wir außerdem über die Folgen für den Arbeitsmarkt gesprochen. Weitere Gastbeiträge behandeln das Thema aus der Perspektive von Marketing und Vertrieb, Kundendienst, Logistik, Baubranche und Gastronomie sowie Kommunikationstechnologie. Nicht zuletzt steht auch die Digitalisierung der Energiewende an.

Ihre kooperativen Industrie-4.0-Strategien können auch für viele KMU als Musterbeispiel gelten, denn die Veränderungen im Produktionsalltag der Gegenwart setzen die Unternehmen zunehmend unter Zugzwang. Im Sinne der Wettbewerbsfähigkeit ist vor allem das Führungspersonal gefordert, couragiert die Weichen für die digitale Zukunft zu stellen. Alle Familienunternehmen eint die Tatsache, dass sie sich in einem Spannungsfeld zwischen Tradition und Transformation wiederfinden. Das verdeutlicht eine Befragung von 300 Geschäftsführern, Inhabern und Vorständen durch die Beratungsgesellschaft PwC aus dem Jahr 2018. Demnach erkannten zwar 83 % aller Umfrageteilnehmer in der Digitalisierung den wichtigsten Trend des Jahres. Mehr als die Hälfte gab jedoch an, erst ihre Nachfolgegeneration in der Pflicht zu sehen, wenn es darum geht, digitale Geschäftsmodelle zu entwickeln, die Kooperation mit innovativen Start-ups zu forcieren oder die allgemeine Digitalisierung des Unternehmens voranzutreiben. Das führt in vielen Fällen zu einem Konflikt zwischen den die Familienbetriebe leitenden Generationen, denn die designierten Nachfolger zeigen sich deutlich offener, wenn es um die Einführung neuer Technologien und entsprechende Investitionen geht.

Festo setzt auf KI, Kooperation und Bionik

Die 1925 gegründete Festo AG & Co. KG sitzt in Esslingen am Neckar und beschäftigt weltweit rund 20.000 Mitarbeiter. 2018 erwirtschaftete der Maschinenbauer einen Umsatz von 3,1 Milliarden Euro. Die Automatisierung treibt Festo bereits seit 1956 voran, wenngleich in dieser Zeit noch auf Basis von Drucklufttechnologie. Mittlerweile digitalisiert das Unternehmen nicht nur die eigenen Produktionsprozesse, sondern bietet auch seinen Kunden entsprechende Lösungen an, auch für Pneumatik-Elektrik-Kombinationen. Beim im Oktober 2018 verliehenen Award „Digital Transformer of the Year“ konnte Festo in der Kategorie „Industrie und Technik“ den dritten Platz erringen. Die Auszeichnung richtet sich an Unternehmen, die selbst als Digitalisierungsleuchttürme gelten und anderen Hilfestellung bieten.

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Mit spektakulären Entwicklungen aus dem Bionic Learning Network sorgt Festo regelmäßig für Schlagzeilen: Dieser BionicOpter nach dem Vorbild der Libelle surrt mit dreizehn Freiheitsgraden durch die Haupthalle in Esslingen. (Bild: Festo)

Entscheidend für den Erfolg ist laut Festo die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Partnern aus verschiedenen Bereichen, um neue Standards und digitale Geschäftsmodelle gemeinsam voranzutreiben. „Industrie 4.0 ist kein individuelles Business. Wir müssen umdenken und Wettbewerber nicht nur als Konkurrenten sehen. Nur gemeinsam mit Partnern können Standards erarbeitet werden“, meint Andreas Oroszi, Leiter Digital Business bei Festo. Die Kooperation mit Start-ups zählt für Festo zu den wichtigsten Innovationsbeschleunigern, etwa im Rahmen von Accelerator-Programmen. Dabei fördern etablierte Unternehmen und weitere Investoren über einen befristeten Zeitraum die Entwicklung innovativer Produkte und Geschäftsmodelle und profitieren bei erfolgreichem Projektverlauf von einem Technologietransfer oder einer Beteiligung am Start-up. Aber auch die Übernahme erfolgreicher Start-ups zählt zu den bewährten Strategien. „Wir haben unsere KI-Kompetenzen durch den Kauf von Resolto Informatik deutlich erweitert. KI soll nun in unsere Komponenten und Systeme integriert werden“, so Oroszi. Dadurch erhofft sich Festo Verbesserungen bei der Echtzeitanalyse von Daten und der intelligenten Prozessüberwachung. Das Potenzial demonstrierte die Firma bereits anhand der automatischen Echtzeiterkennung fehlerhafter Batterien während der laufenden Produktion.

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Schwarz auf Weiß
Dieser Beitrag erschien zuerst in unserer Magazin­reihe „IT-Unternehmen aus der Region stellen sich vor“. Einen Über­blick mit freien Down­load-Links zu sämt­lichen bereits verfügbaren Einzel­heften bekommen Sie online im Presse­zentrum des MittelstandsWiki.

Neue Impulse bezieht Festo aber auch aus der Natur und überträgt sie auf die Entwicklung bionischer, kollaborativer Roboter und Formgreifer, die beispielsweise die Funktionsweise eines menschlichen Arms nachahmen. Zu den bekanntesten Entwicklungen der Firma gehört der auf der Hannover Messe 2018 vorgestellte BionicFlyingFox. Das künstliche, per 3D-Druck entstandene Fledertier ahmt mit seiner Flügelspannweite von 2,28 m den Körper-, Glieder- und Gelenkaufbau des natürlichen Vorbilds nach und bewegt sich dank eines integrierten Motion-Tracking-Systems teilautonom auf Machine-Learning-optimierten Flugbahnen. Dabei hat Festo einen konkreten Nutzen für die industrielle Digitalisierung vor Augen: Fliegende Roboter vermessen bereits heute Fabrikhallen oder Gelände. Sie leiten ihre Daten an eine Software weiter, die automatisch optimierte Layouts für effizientere Produktionsabläufe erstellt.

Trumpf vertraut auf die eigenen Mitarbeiter

Die Anfänge der Trumpf GmbH + Co. KG aus Ditzingen reichen bis ins Jahr 1923 zurück. Das Unternehmen konzentrierte sich auf die Blechbearbeitung und stellte 1968 mit der Trumatic 20 die erste Bearbeitungsmaschine mit numerischer Bahnsteuerung vor, die – mit Ausnahme manueller Werkzeugwechsel – vollautomatische Prozessabläufe erlaubte. Heute gilt der Weltmarktführer im Bereich Werkzeugmaschinen als Paradebeispiel für die Wettbewerbsstärke deutscher Maschinenbauer. Bereits 2013 nannte die McKinsey-Studie „Deutschland 2025“ die hohe Kooperationsbereitschaft des Herstellers mit Partnern aus Industrie und Forschung als maßgebliche Säule des Erfolgs auf dem Weg zur Industrie 4.0.

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Das 2017 eröffnete Trumpf-Logistikzentrum am Stammsitz in Ditzingen ist komplett auf automatisierte, digital gesteuerte Prozesse ausgerichtet. (Bild: David Franck – Trumpf)

Eine 2017 in Chicago eröffnete Smart Factory soll Kunden das Potenzial vernetzter Fertigungstechnologie nahebringen. Dabei betont Trumpf die Notwendigkeit, die gesamte Prozesskette zu vernetzen. Der Fertigungsprozess an der Maschine selbst macht nach Ansicht der Firma nicht mehr als 20 % des gesamten Ablaufs aus. Somit bietet eine Optimierung der Bestellabwicklung, Lagerhaltung und Logistik zusätzliches Potenzial zur Effizienzsteigerung. Moderne, intralogistische Konzepte steuern den Materialfluss automatisch und überwachen fortlaufend den Lagerbestand, Maschinen kündigen auf Basis von Daten einen Ausfall an und helfen, einen Stillstand zu vermeiden. Digitales Tracking einzelner Bauteile zeigt an, wo sich eine im Bearbeitungsprozess befindliche Komponente gerade befindet und wann der Auftrag erfüllt werden kann. Diese Empfehlung beherzigt das Unternehmen auch selbst und setzt beispielsweise im 2017 eröffneten Logistikzentrum am Stammsitz auf digitale Lager- und Kommissioniertechnik.

Strategisch stehen die Zeichen bei Trumpf auf Kooperation. Im Juli 2019 erwarb der Informationstechnikdienstleister GFT Technologies das 2015 gegründete Tochterunternehmen Axoom, bis dato verantwortlich für die Entwicklung des hauseigenen IoT-Betriebssystems für den Austausch, die Analyse und Visualisierung maschineller Daten. Die Übernahme geschah allerdings vor dem Hintergrund einer Entwicklungspartnerschaft zwischen Trumpf und GFT Technologies, die künftig dem Ausbau des Smart-Factory-Portfolios des Ditzinger Unternehmens zugutekommen soll. Bei der Zusammenarbeit mit Start-ups setzt Trumpf nicht nur auf Beteiligungen, um sich neue Technologien und Know-how zu sichern. Seit 2017 verfolgt das Unternehmen zusätzlich das Programm Urban Harbor, das es den eigenen Mitarbeitern ermöglicht, vielversprechende Digitalisierungsvorschläge während der Arbeitszeit weiterzuentwickeln, in ein eigenes Start-up zu überführen und bis zur Marktreife weiterzuentwickeln. Dazu Christof Siebert, Leiter des Technologie- und Innovationsmanagements bei Trumpf: „Wir bieten den Erfindern in unserem Unternehmen nun noch mehr Möglichkeiten, ihre Ideen in die Praxis umzusetzen. Wir möchten damit ein weiteres Mal den Innovationsgeist in unserer Belegschaft fördern, aber auch neues Geschäft für Trumpf entwickeln.“

Digitalisierung geschieht im Kopf

Die familiär geführten Firmen aus dem industriellen Sektor Baden-Württembergs zeigen mit ihren Digitalisierungsstrategien, wie der Wandel vom Traditions- zum Innovationsunternehmen gelingt. Nicht allein die maschinelle Vernetzung, sondern erst die Anwendung digitaler Konzepte auf sämtliche Geschäftsprozesse schöpft das volle Potenzial zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit aus. Das beinhaltet auch die Entwicklung digitaler Geschäftsprozesse, indem beispielsweise die Produkte selbst vernetzt und mit digitalen Diensten wie etwa zur vorausschauenden Wartung verknüpft werden.

Für kleine und mittelgroße Familienunternehmen mit begrenztem Budget bietet sich die Kooperation mit Start-ups im Rahmen von Accelerator-Programmen mit anschließendem Technologietransfer an. Auch Entwicklungspartnerschaften können die Digitalstrategie in Schwung bringen – entweder durch die vorwettbewerbliche Zusammenarbeit in anwendungsorientierten Forschungsprojekten oder durch bilaterale Kooperationsprojekte zwischen Einzelunternehmen, in denen beide Partner ihre jeweiligen Stärken einbringen. Alle Strategien fordern der Führungsebene eine hohe Bereitschaft ab, sich auf die neuen Technologien einzulassen und vor entsprechenden Investitionen nicht zurückzuschrecken. Wer zu lange zögert und erst die kommende Führungsgeneration in der Pflicht sieht, bleibt auf der Strecke.

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Kai Tubbesing arbeitet als freier Fach­journalist, Texter für Unter­nehmen und Agenturen sowie Über­setzer im Herzen des Ruhr­gebiets. Sein Kom­petenz­portfolio um­fasst neben klassischen IT-Themen wie Netz­werk­technologien, Security und PC-Hard­ware auch den Mobil­geräte- und Audio­bereich. Bis 2017 war er als leitender Re­dakteur und stell­vertretender Chef­redakteur in der deutschen Redak­tion von Tom’s Hard­ware tätig.

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